Jan Niggemann. Der diskrete Charme der Autorität? Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive.

Jan Niggemann. Der diskrete Charme der Autorität? Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive.
Weinheim: Beltz Juventa Verlag 2022, 298 Seiten.

Jan Niggemann beschäftigt sich mit der pädagogischen Dimension von Hegemonie und Autorität. Dadurch verbindet er einige wichtige Fragen unserer Zeit – oder in gewisser Hinsicht auch zeitlose Fragen.

Aktuell arbeitet Niggemann als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) an der Universität Graz im Arbeitsbereich Bildungstheorie und Schulforschung. Schon länger ist er viel gefragter Vortragender zu Gramsci und zu politischer Bildung. Mit Gramsci wird eine Perspektive eingenommen, eine Veränderung zum Ziel, die am Alltagsverstand ansetzt. Im Verständnis der Philosophie der Praxis bilden sich potenziell alle Menschen als Philosoph*innen – Philosoph*innen, die Herrschaft und Unterdrückung verstehen und politisch handeln (lernen). Durch die Philosophie der Praxis wird eine kollektive kritische Ausarbeitung des „buon senso“ (gemeinsam die Gewordenheit, Bedingungen und Möglichkeiten zu erkunden) zur Tätigkeit, die eine massenhafte emanzipatorische Weise der Vergesellschaftung ermöglichen kann. Diese Perspektive ist in Jan Niggemanns Buch zentral.

Das Buch geht auf Niggemanns Dissertationsschrift zurück und ist entsprechend akademisch theoretisch geschrieben. Zu wünschen bleibt, dass der Inhalt in Zukunft nochmal auf eine zugänglichere Weise veröffentlicht wird – immerhin ist er auch abseits der akademischen Welt enorm relevant. Einstweilen freue ich mich über die ­vorliegende Zusammenstellung all dieser theoretisch-praktischen Bausteine, die Herausarbeitung der Thesen und Argumente, die besonders für jene sehr hilfreich und lohnend sein dürften, die sich für Pädagogik/Bildung und ihre Bedeutung und Möglichkeiten im Struggle1 um eine gerechtere Welt interessieren.

Zu Beginn des Buchs steht eine Zeitdiagnose. Neue Autorität lehnt physische Gewalt ab, ‚übersieht‘ aber strukturelle Gewalt bzw. zitiert Niggemann hier Mbebes Diagnose des imperialen Bewusstseins: „der gewaltige Wille zur Unwissenheit, der sich aber als Wissen versteht“ (Mbebe: 2014, 137). Damit wird einem Motiv zugearbeitet, unabhängig zu werden, sich als autonomes Subjekt zu sehen – eine Tradition der okzidentalen Philosophie. Somit knüpft Niggemann hier die Frage an, „ob und wie Autorität als Kategorie zu verstehen hilft, wer von wem und auf welche Weise unabhängig zu werden sucht und was folgend unter Autonomie verstanden wird“ (Niggemann: 2022, 14 f.). Zu Beginn steht also eine Kritik der Autorität, die postkoloniale Perspektiven aufgreift und nach der Legitimität der Pädagogik fragt, um schließlich eine doppelte Perspektive einzunehmen: An Gramsci und Hall anknüpfend Bewusstseinsarbeit (Niggemann entwickelt den Begriff „doing consciousness“) voranzubringen und wo Ideologie in Handlungsmöglichkeiten (in pädagogischer Praxis) übersetzt wird, können „hegemoniale Strukturen (v_er-)lernbar werden“.

In vier weiteren Abschnitten führt das Buch in Richtung der knappen Conclusio. Dabei folgt nach (2) einer historischen Skizzierung von (pädagogischer) Autorität in Bildungs- und Erziehungswissenschaft (3) eine Herausarbeitung von (pädagogischer) Autorität und dem Zusammenhang zu Hegemonie, Führung und Herrschaft, aus Gramscis Werk. Anschließend werden (4) mit Halls Artikulation und transformative Pädagogik Konzepte abgeklopft, um schließlich all das zusammendenken zu können in (5) den Überlegungen unter der Überschrift „Wer autorisiert die Erziehenden?“ Auf diesem Wege entstehen Niggemanns Elemente einer hegemonietheoretischen Konzeption pädagogischer Autorität.

„Die zentrale These dieser Arbeit ist, dass pädagogische Autorität als Autorisierung sozialer Beziehungen einen entscheidenden Beitrag zur Verallgemeinerung von politischen Projekten und Philosophien beiträgt.“ (Niggemann: 2022, 269). Diese These macht Jan Niggemann im Buch nachvollziehbar, formuliert reflexive Einwände, lotet Limitierungen aus und gibt einen Ausblick auf mögliche Anschlussfragen. Es gibt also auch einiges zum Weiterdenken. Jan Niggemann möchte die Lesenden mitnehmen und zur Weiterarbeit mit den Thesen anregen – was in meinem Fall gelungen ist, daher eine klare Empfehlung zum Lesen und Durchdenken dieses Buches. //

1   Der Begriff Kampf klingt zu singulär-ereignishaft, der englische Begriff Struggle zeigt vielleicht eher das mühsam abkämpfende Prozesshafte – das auch besser zur Hegemonietheorie passen dürfte.

Lenz, Werner (2023): Jan Niggemann. Der diskrete Charme der Autorität? Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2023, Heft 279/74. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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