Die Wiener Jüdin Friederike „Fritzi“ Löwy (1910–1994) ist vor allem als in den 1920er- und 1930er-Jahren erfolgreiche Schwimmerin des jüdischen Sportklubs S.C. Hakoah Wien bekannt, die für ihren Verein zahlreiche Preise errang und für ein paar Jahre auch zu den zehn besten Schwimmerinnen weltweit zählte. So verteidigte sie 12 Jahre lang den Titel Österreichische Meisterin im Schwimmen, 1927 stellte sie auch den Europarekord in 200 Meter Kraul auf. Nach der NS-Machtergreifung flüchtete Fritzi Löwy 1939 nach Mailand, wo sie bis 1944, zum Teil als „U-Boot“, lebte. Nachdem ihre Schwester Anna Ungar in Mailand von der SS verhaftet und nach Auschwitz deportiert worden war, entschloss sie sich im Mai 1944 zur Flucht in die Schweiz. 1949 kehrte Fritzi Löwy schließlich nach Wien zurück, wo sie 1994 verstarb.
Mitte der 1990er-Jahre erwarb die Fotografin Andrea Sulzgruber einen Teil von Fritzi Löwys Nachlass – bestehend aus drei Alben und losen Albumblättern – auf einem Flohmarkt in der Nähe von Wien. 2008 übergab sie die Alben der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien.2 Während ein Teil des überlieferten Albumbestandes Fritzi Löwys Albumpraktiken aus der Vorkriegszeit dokumentiert, fertigte diese zwei weitere Alben nach 1945 an. Sie veranschaulichen Löwys individuelle Erinnerungspraxen nach dem Holocaust: Ein Album widmete Löwy ihrer Familie und thematisiert darin die Folgen der antijüdischen nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik für ihre Familie. In einem weiteren Album verarbeitet Fritzi Löwy ihren Aufenthalt als Geflüchtete in der Schweiz der Jahre 1944 und 1945.3 Im Folgenden konzentrieren sich meine Ausführungen auf Löwys Familienalben.
Ein Erinnerungsalbum
Die Geschichte hat im Album Spuren hinterlassen. So weisen Klebespuren, erläuternde Texte und Löcher auf einzelnen Albumblättern darauf hin, dass Bildmaterial verloren gegangen ist. Fritzi Löwy befüllte lediglich die Hälfte der Albumblätter mit Fotografien, der Rest wurde leer gelassen. Zudem deuten Beschriftungen in weißer Farbe auf einzelnen Blättern an, dass das Album vor seiner Verwendung als Familienalbum eine Sammlung von Kunstansichtskarten beinhaltete, die Ausstellungsbesuche Fritzi Löwys im Wien der Zwischenkriegszeit dokumentieren. In der aktuellen Form enthält das Album Fotografien von Mitgliedern der Familie Löwy aus den ersten fünf Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die meisten Fotos werden von handschriftlichen, mit blauem Kugelschreiber verfassten Texten begleitet. Löst man die Fotografien von der Rückseite, so weisen viele davon persönliche Widmungen auf und offenbaren, dass einzelne Fotografien ihren Besitzer bzw. ihre Besitzerin gewechselt haben.
Eingefügte handschriftliche Texte bilden eine wichtige Lese- und Interpretationshilfe für das Betrachten des Albums. Gleichzeitig liefern sie auch einen wichtigen historischen Kontext für die Betrachtung. Nicht nur erweitert sich dadurch der Interpretationsrahmen der Fotografien, der sich darin abzeichnende retrospektive Blick verweist zudem darauf, dass die Beschriftungen und Kommentare aus einer „späteren Gewordenheit“ formuliert worden sind.4 Das ist insbesondere bei jenen Albumblättern der Fall, auf denen Löwy ihrer vom NS-Regime deportierten und ermordeten Familienangehörigen gedenkt.
Fritzi Löwys Schwester Olga Hass und ihren drei Töchtern Hertha, Edith und Marie im Ghetto Opole (Lubelskie) im Frühjahr 1941
Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht eine Albumdoppelseite, auf der Fotografien von Fritzi Löwys Schwester Olga Hass und ihren drei Töchtern Hertha, Edith und Marie im Ghetto Opole (Lubelskie) im Frühjahr 1941 zu sehen sind. Diese Seite bildet eine Ausnahme im Album, weil sie Fotografien von Familienangehörigen nach ihrer Deportation zeigt. Keines der anderen Bilder stammt von den Schauplätzen des nationalsozialistischen Terrors. Die Fotografien reihen sich in eine Gruppe von vereinzelt tradierten, privaten Fotografien aus dem Ghetto Opole ein. In den meisten Fällen fußt das Glück ihrer Überlieferung auf der erfolgreichen Flucht und dem Überleben von Angehörigen, denen die Fotos geschickt wurden. In der Hinterlassenschaft Fritzi Löwys existieren 30 Briefe und eine Postkarte von Olga Hass, die sie zwischen April 1941 und April 1942 an ihre Schwestern Fritzi Löwy und Anna Ungar nach Mailand geschickt hatte.5 Hinzu kommen sechs Postkarten und ein Brief, welche Olga Hass zwischen Februar und April 1942 ihrer Mutter Josefa Löwy nach Wien geschrieben hat.6
Zusätzlich zu Erinnerungsnotizen auf der Rückseite der Fotos und Bildbeschriftungen auf den Albumblättern gibt es in diesem Fall die Möglichkeit, mehr Informationen zum historischen Zusammenhang der Fotos zu erfahren. Aus der Datenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW) über die österreichischen Opfer der Shoah wissen wir, dass Olga Hass und ihre drei Töchter am 15. Februar 1941 von Wien nach Opole im damaligen „Generalgouvernement“ (ehemaliges Polen) deportiert wurden.7 Sie zählten zur Gruppe der 5.031 Jüdinnen und Juden, die auf die Forderung des Wiener Reichsstatthalters Baldur von Schirach zu Beginn des Jahres 1941 in verschiedene Orte im „Generalgouvernement“ zwangsumgesiedelt wurden.8 Die Deportationen fanden noch vor Beginn eines „allgemeinen, das gesamte ‚Großdeutsche Reich‘ umfassenden Deportationsprogramms“ statt. 9 In den Deportationstransporten vom 15. und 26. Februar 1941 kamen insgesamt 2.045 zumeist ältere Jüdinnen und Juden aus Wien nach Opole.10 Bereits seit Ende 1939 hatte die deutsche Besatzungsmacht in Polen Jüdinnen und Juden aus anderen polnischen Orten nach Opole ausgewiesen.11 Nach der Ankunft der Transporte aus Wien veranlasste der Kreishauptmann des Distrikts Puławy, Alfred Brandt, die Errichtung eines jüdischen Ghettos in Opole.12
Im Ghetto Opole
Den Bildbeschriftungen auf der Rückseite zufolge wurden zwei der drei Aufnahmen im Mai 1941 im Ghetto Opole aufgenommen.
Zwei Fotografien befinden sich auf dem linken Albumblatt: Eine davon zeigt eine Gruppe von acht Personen in einem Raum, unter ihnen Olga Hass und ihre drei Töchter. Löwys Bildüberschrift zum Foto lautet „Ein Foto aus dem Ghetto”; datiert ist es mit „Opolo [sic] 1941“. Löst man die Fotografie vom Albumblatt, so zeigen sich auf der Rückseite zwei Notizen in unterschiedlichen Farben und Schriftzügen: in roter Tinte „Erinnerungen aus Opole I.V.1941“, verfasst von Olga Hass, und mit Bleistift nachträglich hinzugefügt „Das letzte Bild unserer armen Schwester!“
Die zweite Fotografie auf dieser Seite, links unten, bildet Fritzi Löwys Nichten Hertha, Marie und Edith im Freien ab. Auf der Bildrückseite ist die Widmung „Unsern ‚Votern‘, Opole, Mai 1941“13 zu lesen. Direkt neben der Fotografie ist folgender Kommentar auf dem Albumblatt niedergeschrieben: „In Mauthausen umgebracht“. Historische Recherchen ergaben, dass Olga Hass’ Mann Wilhelm, dessen Porträtfoto sich zwei Seiten davor im Album befindet, in Mauthausen umgekommen ist.14 Die Finderin des Albums hat das Foto von Fritzi Löwys Nichten an dieser Stelle falsch zugeordnet, ursprünglich muss hier Wilhelm Hass‘ Porträtfoto eingeklebt gewesen sein.
Auf der rechten Albumseite ist ein Porträt von Olga Hass zu sehen, das sich von den beiden anderen im Format und in Bezug auf das Fotopapier unterscheidet. Wie ein Vergleich mit dem Gruppenbild auf der linken Seite zeigt, handelt es sich dabei vermutlich um einen gedrehten Ausschnitt aus demselben. Das Foto ist nicht fixiert, sondern lediglich lose eingelegt. Auf der Bildrückseite findet sich der Hinweis, dass die Aufnahme auf Fotopapier der italienischen Firma „Ferrania” entwickelt wurde. Fritzi Löwy ließ diese Fotografie vermutlich im Laufe ihres Exils in Italien anfertigen. Löwy hat dem Porträt ihrer Schwester folgenden Kommentar hinzugefügt: „Mein gutes, armes Schwesterl – Letzte Aufnahme aus Opole (Ghetto) 1941“.
Die Informationen auf der Bildrückseite der Fotos sowie die Bildbeschriftungen zu den Fotografien im Album enthalten bereits Hinweise auf unterschiedliche historische Gebrauchsweisen der Fotografien rund um den Entstehungszeitpunkt und nach dem Wechsel im Besitz bzw. nach dem Einkleben ins Album; sie suggerieren somit auch unterschiedliche persönliche Bedeutungen, die den Fotografien zugeschrieben wurden. Darüber hinaus enthält die Albumseite eine historische Spur über die Bedeutung von Fotografien für die in osteuropäische Ghettos und Lager deportierten Jüdinnen und Juden. Ich möchte dieser Spur im Folgenden am Beispiel des Gruppenfotos nachgehen, das Fritzi Löwy mit der Bildüberschrift „Ein Foto aus dem Ghetto“ versehen hat.
Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, dass es sich um eine Aufnahme in einem Ghetto handelt, lediglich der Bildtitel weist darauf hin. Das Foto zeigt acht Personen dicht aneinander gedrängt in einem kleinen Raum. Auch wenn alle für die Aufnahme zurechtgemacht wirken, machen ihre Kleidung und der räumliche Hintergrund einen ärmlichen, bescheidenen und beengten Eindruck. Auffallend sind auch die Kopftücher, die alle Frauen tragen. Olga Hass ist die Frau links außen im Bild. Ihre beiden jüngeren Töchter Marie und Edith stehen hinter ihr in der letzten Reihe, während ihre älteste Tochter Hertha in der vordersten Reihe hockt. Die anderen vier Personen konnte ich nicht identifizieren. Doch noch ein Detail gerät auf dem Foto ins Blickfeld: eine Fotosammlung an der Wand, direkt hinter Olga Hass, in der rechten oberen Bildhälfte. Offensichtlich handelt es sich um die Fotoecke von Olga Hass’ Familie, denn die Spitze der Fotosammlung bildet eine Porträtfotografie von Olgas Mutter, Josefa Löwy.
In einem begleitenden Brief, verfasst am 2. Mai 1941, geht Olga Hass auf eine Fotografie ein, die sie an ihre beiden Schwestern Fritzi und Anna nach Mailand schickte: „Anbei eine [sic] Photo und da werdet ihr sehen, daß ich doch eigentlich wie ausgesorgt aussehe, es ist auf unserm Bett ober diesem ein Deckerl von Daheim und eine Photo-Ecke oben ‚Unsere Mutta‘ links davon ein bekannter [sic] von mir, deren Photo ich aus Holland hierher bekam, rechts mein Schwiegersohn mit unser [sic] Eri, unter denen sämtliche Familienangehörige, dann Ohringer, ganz unten Lilly & Dakl!! hinter Ditta meine Lampe.“15
Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um dieselbe Fotografie handelt wie im Album. Interessant ist zunächst, dass sich Olga Hass in ihrer Beschreibung des Fotos auf die Einrichtung des Zimmers und die Fotoecke konzentriert. Die Formulierung „[…] und da werdet ihr sehen, daß ich doch eigentlich wie ausgesorgt aussehe […]“, mit der die Beschreibung des Gruppenfotos beginnt, deutet an, wozu die Fotografie dienen sollte: Nämlich zu zeigen, dass es Olga und den ihren trotz der Umstände gut gehe. Ein paar Tage später legt Olga Hass nochmals diese Funktion offen: „Es geht uns gut und siehst Du es an meiner [sic] Photo, glaubst es endlich?“16 Die Fotografien waren – gemeinsam mit den Briefen – das einzige Mittel der Kommunikation nach außen, das Olga Hass zu diesem Zeitpunkt geblieben war. Es ist anzunehmen, dass sie einen Fotografen bzw. eine Fotografin im Ghetto mit den Aufnahmen beauftragte.17 Zum damaligen Zeitpunkt herrschte offensichtlich noch kein Fotografierverbot im Ghetto. In der Regel wurden Fotoapparate Jüdinnen und Juden direkt nach der Ankunft in den Ghettos und Lagern abgenommen und von den nationalsozialistischen Behörden beschlagnahmt.18
Wie die Fotoecke im Bild andeutet, hat Olga Hass nach Opole ein Stück „von Daheim“ mitgenommen: in Form von Fotografien der Liebsten und anderer Gegenstände, die sie im Brief beschreibt. In einem Brief vom 15. September 1941 kommt sie nochmals auf die Fotografien an ihrer Wand zu sprechen und stellt darin eine direkte Verbindung zwischen den Fotografien und ihrer Erinnerung an die Personen her: „Ich denke alle Tage an alle, alle Eure Bilder hängen ober meinem Bette.“19 Gleichzeitig verweist der Inhalt der Briefe darauf, dass Olga Hass ihre Schwestern um aktuelle Fotos bat und ihr diese auch nach Opole geschickt wurden.20 Der Austausch von Fotografien fand in beide Richtungen statt.
Bildausschnitt mit Olga Hass und Fotosammlung der Familie im Hintergrund
Sowohl der Inhalt des Fotos als auch jener der zitierten Briefe heben die integrale Rolle von privaten Fotografien für Deportierte hervor. Folgen wir den Ausführungen des Literatur- und Medienwissenschaftlers Hanno Loewy zum Stellenwert von Fotografien in ausgewählten Zeugnisberichten von Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, so fungierten private Fotos auch als Stellvertreter für Familienbeziehungen, die gewaltsam auseinandergerissen wurden und als „[…] a trace of something social, as a symbolic expression of relationships that were to be taken up again, when ‚all this‘ would finally be over.“21
Während Olga Hass an ihre gesammelten Fotografien noch die Hoffnung geknüpft haben mag, dass die Trennung nur eine auf Zeit sein würde, symbolisieren die Fotografien im Fotoalbum ihrer Schwester Fritzi Löwy einen unaufhebbaren Verlust. Sie sind an die Stelle von realen Personen getreten, die nicht mehr da, die ermordet worden waren.22 Die Fotografien waren neben den Briefen das letzte Lebenszeichen von Olga und ihren Kindern. Fritzi Löwys Bildunterschrift zum Porträtfoto von Olga Hass „Mein gutes, armes Schwesterl – Letzte Aufnahme aus Opole (Ghetto) 1941“ bringt diese Bedeutung auf den Punkt.
Was die Bilder nicht zeigen
Ohne die Beschriftungen würde auf den ersten Blick nichts darauf hindeuten, dass die Fotografien aus einem vom NS-Regime errichteten Ghetto stammen. Dem Bildinhalt nach lassen sie sich nicht eindeutig festmachen bzw. lokalisieren. Über die Lebensbedingungen vor Ort liefern die Fotos insofern ein paar Anhaltspunkte, als sich an ihnen einfache, ärmlich wirkende Wohnbauten und Besitztümer sowie enge Wohnverhältnisse ablesen lassen.
So auch auf dem Foto von Fritzi Löwys Nichten Hertha, Marie und Edith: Die drei jungen Frauen stehen vor einer Holzhütte im Freien, die Umgebung wirkt ländlich. Der Boden ist nicht geteert und uneben. In der rechten hinteren Bildhälfte zeichnen sich ein Graben sowie weitere Behausungen ab. Sie erwecken einen ärmlichen und heruntergekommenen Eindruck.
Fritzi Löwys Nichten Hertha, Marie und Edith
Wenn wir jedoch die auf den Referenzcharakter von Fotografien bezogene Sehweise wieder verlassen und die Fotos im Album nicht als bloßes Abbild der Lebensrealität im Ghetto begreifen, sondern als etwas Konstruiertes, so vermögen sie sich im Sinne der Fotohistoriker Ilsen About und Clement Chéroux als „außerordentlich aufschlußreiches Dokument [zu] erweisen“23. Das zeigt sich auch am Beispiel des Gruppenbildes von Fritzi Löwys Nichten.
Es ist kein schneller Schnappschuss, die eingenommenen Posen der drei jungen Frauen wirken wohlüberlegt und bilden einen deutlichen Kontrast zur tristen Umgebung. Sowohl auf diesem Foto, als auch auf dem anderen beschriebenen Gruppenbild spiegelt sich meiner Ansicht nach der Wunsch wider, sich in der neuen Umgebung würdevoll zu präsentieren. Das allgegenwärtige Elend im Ghetto sollte nicht ins Bild gerückt werden. Die Fotografien wurden zur Erinnerung verschickt und hatten auch die Funktion, die Angehörigen zu beruhigen. Die Bilder entstanden in den ersten Monaten nach der Ankunft in Opole, zu einer Zeit, als – den Briefen nach zu urteilen – noch Zuversicht vorherrschte. In den nachfolgenden Briefen spiegelt sich eine zunehmende Verschlechterung der Lebenssituation wider, die sich in der Häufung von schweren Krankheiten, im Klagen über nie enden wollende Teuerungen, dem vorherrschenden Mangel sowie dem zunehmenden Verlust des Lebenswillens niederschlägt. Der Tod war im Ghetto allgegenwärtig – darauf verweisen auch Olga Hass’ Aussagen in den Briefen. Ein Großteil der aus Wien deportierten Jüdinnen und Juden wurde schließlich im Frühjahr und Sommer 1942 in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ ermordet.24 Der letzte in Löwys Hinterlassenschaft erhaltene Brief von Olga Hass ist mit 12. April 1942 datiert, danach verlieren sich ihre Spuren und die ihrer drei Töchter.
Zusammenfassend gesehen, zeigt diese Albumseite Fotografien, die die Verfolgten von sich selbst gemacht haben bzw. noch machen konnten. Daher kommt ihnen im visuellen Gedächtnis der Shoah ein besonderer Wert zu, stellen sie doch einen Kontrapunkt zur Mehrzahl der überlieferten Fotografien aus der NS-Zeit dar, die aus der Perspektive der Täter gemacht wurden.25 Im Bezug auf die NS-Propagandafotografien aus den Ghettos bezeichnen die Historiker Florian Freund, Bertrand Perz und Karl Stuhlpfarrer das „uns heute ins Auge stechende Leid“ als eines der beliebtesten Motive: „Das Elend sollte nicht rühren, sondern die ‚Lebensunfähigkeit‘ und ‚Minderwertigkeit‘ von Juden beweisen. Fotografiert wurden fast ausschließlich Portraits von Personen in sozialen Handlungen, die dem NS-Stereotyp vom ‚typisch Jüdischen‘ entsprachen […]“26.. Gerade vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Bedrohung der eigenen Existenz kann die Erstellung von Fotografien die Funktion haben, die eigene Identität und Würde zu festigen und zu verteidigen. Auf diesen Aspekt verweist die Kulturwissenschafterin Kirsten Emiko McAllister in ihrer Analyse privater Fotografien, die aus dem Besitz von Familien japanischer Herkunft in den kanadischen Internierungslagern während des Zweiten Weltkrieges stammen: „In this context, as a visual practice that constitutes one’s identity as a daughter or mother, photography can be seen as an instrument to reiterate a self under the threat of dissolution. It is a practice used in the struggle to maintain self-integrity.“27
Die Fotos aus Opole lese ich daher als ein Zeichen des Aufbegehrens gegen den schrittweisen Prozess der völligen Entrechtung, dem Olga Hass und ihre Familie als Folge der nationalsozialistischen antijüdischen Maßnahmen ausgesetzt waren und der schließlich zu ihrer Ermordung führte. Im Album werden sie symbolisch zu einem letzten Lebenszeichen vor der Ermordung, aber auch zu einem materiellen Überrest bzw. „Nachleben“ ,28 das an die Personen und ihr Schicksal erinnert. //
Fritzi Löwy bewahrte in ihren Erinnerungsalben nicht nur die Geschichte ihrer sportlichen Erfolge, sondern auch die tragischen Spuren des Holocausts, wodurch sie einen einzigartigen Beitrag zur Erinnerungskultur leistete.Telkom University Jakarta