Aleida Assmann, Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn.

Aleida Assmann, Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn.

Mit der Krise der Demokratie hat sich das wissenschaftliche Interesse an letzterer erhöht. Aufgrund des demographischen Wandels hat die Heterogenität in den Gegenwartsgesellschaften zugenommen. Sozialer Zusammenhalt und die Konsequenzen vor sich gehender Spaltungen werden beforscht. Um die Suche nach einem verbindenden Ethos, einem Konzept einer Leitkultur, einer Art Gemeinsinn ist es stiller geworden. Aber diese Thematik ist nicht weniger wichtig. 

Auf wissenschaftlicher Ebene präsentieren Aleida Assmann, Anglistin und Literaturwissenschafterin, sowie Jan Assmann, Ägyptologe, er ist im Februar 2024 nach Beendigung des Manuskripts verstorben, ihre Einsichten und Erkenntnisse. Mit ihrer kulturwissenschaftlichen Position wollen sie den bislang vorwiegend politikwissenschaftlichen, sozialtechnischen oder rechtlichen Diskurs erweitern. Ihre Perspektive betrifft Themen wie gesellschaftliche Partizipation, politische Kultur oder Ethos im Rechtsstaat. Aus Sicht der beiden Wissenschafter*innen handelt es sich um aktuelle Themen, die die Demokratie zu ihrer Stärkung braucht.

Ausgangspunkt des Buches ist ein Kapitel zur Sprach- und Begriffsgeschichte von „Gemeinsinn“. Gemeinsinn umfasst, was allen gehört, was sich für alle gehört und von allen, bezüglich Pflichten und humaner Tugenden, gefordert ist. Der Begriff Gemeinsinn (sensus communis) wird nicht klar abgegrenzt. Darin liegt, urteilen Aleida und Jan Assmann, sein Potenzial. Er kann auf den engsten Familienkreis bis auf die ganze Menschheit bezogen werden, je nachdem wie wir empfinden oder festlegen, mit wem wir etwas gemeinsam haben. 

Mit Blick auf die Volksbildung von Interesse: Christian Thomasius (1655 – 1728), deutscher Philosoph und Jurist, wird als „europäischer Vordenker des Gemeinsinns“ kurz porträtiert. Er hat der deutschen Aufklärung Öffentlichkeit verschafft und mit seinem Einsatz für die deutsche Sprache als Volksbildner gewirkt: Erkenntnisse nicht nur in der damaligen Gelehrtensprache Latein verbreiten – sondern Menschenbildung mittels der deutschen Sprache lebensnah anzubieten, um soziale Abgrenzungen zu überwinden.

In der Umbruchstimmung der beiden letzten Jahrzehnte, markant mit „Zeitenwende“ apostrophiert, wurde der Begriff „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ politisch oft genutzt. Aleida und Jan Assmann sehen im Begriff „Solidarität“ den Bezug zur Gesamtgesellschaft und zu ihren „Ressourcen des Miteinanders und der Resilienz in Zeiten eines umfassenden Wandels“ (S. 39). Solidarität, resümieren sie das Kapitel, stabilisiert menschliche Beziehungen und ist ein tragendes Element politischer Kultur in Demokratien. 

Auf dem Forschungsweg, Bedingungen zu suchen, die Gemeinsinn fördern oder schaden, wurden auch „Menschenbilder“ in einem Kapitel erörtert. Darin erfolgt Kritik an philosophischen Denkern des Nationalsozialismus, die Darstellung des kategorischen Imperativs – „Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz wäre“. Aspekte der diesbezüglichen dialogischen Philosophie des Miteinanders und der Mitmenschlichkeit beschließen dieses Kapitel. „Feindbilder und Freundbilder“ sowie „Grundsätze demokratischer politischer Kultur“ sind Themen der weiteren Abschnitte.

Im letzten Kapitel werden „Helden und Heldinnen“ des Gemeinsinns vorgestellt. Diese ermutigenden Beispiele, Vorbilder und Modelle sollen zu starkem Engagement – zu Gemeinsinn – führen. 

Auf der Basis der Menschenrechte, formulieren Aleida und Jan Assmann am Ende ihrer Publikation, ist „das Bekenntnis zur Achtung und Würde des Menschen“ der „klare Sinn“, der in einer resilienten Demokratie Menschen verbindet und zusammenhält. 

Das differenziert und begriffsgenau verfasste wissenschaftsbasierte Buch eignet sich für den Bereich Politische Bildung, für die Professionalisierung und für einschlägige Bibliotheken. //

Lenz, Werner (2025): Aleida Assmann, Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr 2025, Heft 284/76. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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