Die Herausforderung des sozialen Zusammenhalts. Zu den langfristigen Folgen der Flüchtlingskrise 2015 für Europa1

Die Herausforderung(en) des sozialen Zusammenhalts

Mit hunderttausenden vertriebenen Menschen, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 in die Europäische Union kamen, beherrschten Asylbewerber aus Syrien und Afghanistan wochenlang die Schlagzeilen. Der Begriff „Flüchtlingskrise“ spiegelte die Überlastung der Behörden in Europa wider, die keine gemeinsame Strategie im Umgang mit dem massiven Zustrom von asylsuchenden Menschen entwickeln konnten. Seitdem wurden Grenzschutzprobleme im Schengen-System diskutiert, Studien über die wirtschaftlichen Konsequenzen für Gastländer durchgeführt und nationale Einwanderungsgesetze reformiert.2 Infolgedessen wird Asyl in vielen Ländern nun temporär gewährt, während sich die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren erhöht hat.3
Gleichzeitig sind Debatten über die möglichen politischen und sozialen Konsequenzen hitziger geworden. Quer durch Europa konnten (zumeist nationalistische) Parteien, die vor einer Bedrohung durch „Wirtschaftsmigration“ und insbesondere Terroranschlägen warnten, bei Wahlen Gewinne verzeichnen. Zudem rückten Integrationsthemen in der öffentlichen Diskussion wieder in den Vordergrund. Auch in Österreich wurde entsprechend gehandelt und mit dem Integrationsgesetz 20174 eine neue Integrationsvereinbarung eingeführt, die neben der Verpflichtung zu Sprachunterricht zudem Bürgerorientierungskurse zur Vermittlung demokratischer Werte beinhaltet.

Im Laufe der letzten Jahre ist der soziale Zusammenhalt in Europa offenbar auf mehreren Ebenen geschwächt worden.

Im Laufe der letzten Jahre wurde die soziale Kohäsion in Europa scheinbar auf mehreren Ebenen geschwächt: Erstens zeigten die Probleme bei der Einführung eines Quotensystems zur Aufnahme von Geflüchteten fehlende Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Zweitens hat die Differenzierung zwischen BürgerInnen, die es als Verpflichtung ansehen Vertriebene aufzunehmen, und jenen, die dem aus Angst vor kulturellen Unterschieden und finanziellen Belastungen skeptisch gegenüber stehen, zu einer stärkeren Polarisierung europäischer Gesellschaften geführt. Drittens erschwert mangelnde soziale Unterstützung für Neuankömmlinge die soziale Integration. Da bereits an anderer Stelle5 diskutiert wurde, dass die Schließung von Grenzen und Standortverlagerungen weder die Solidarität in der EU stärken, noch das Ende der „Flüchtlingskrise“ herbeiführen werden, konzentriert sich dieser Policy-Brief auf Fragen auf gesellschaftlicher Ebene.

Flüchtlinge und soziale Vulnerabilität

In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage wurden 176 ExpertInnen (WissenschaftlerInnen, PraktikerInnen und EntscheidungsträgerInnen) zu den erwarteten Folgen von Flüchtlingsströmen für die Vulnerabilität von Familien in Europa befragt.  Die Studie definiert Vulnerabilität als Risiko, Schaden zu erleiden, und unterscheidet zwischen drei Dimensionen der Vulnerabilität: a) wirtschaftliche Vulnerabilität umfasst Aspekte wie Armut und finanzielle Not; b) psychische Vulnerabilität bezieht sich auf starke Gefühle von Stress, Angstzustände oder Depressionen; c) soziale Vulnerabilität inkludiert etwa Stigmatisierung, Diskriminierung oder mangelnde soziale Unterstützung. Viele Flüchtlinge sind von wirtschaftlicher und psychischer Vulnerabilität betroffen. Ihre finanzielle Lage ist oft sehr schlecht, da etwaige Ersparnisse auf ihrer Reise meist aufgebraucht werden. Darüber hinaus ist unter Flüchtlingen die Gefahr besonders groß, im Aufnahmeland arbeitslos und von Sozialhilfe abhängig zu sein.7 Für das hohe Risiko psychischer Erkrankungen sind hauptsächlich traumatische Erfahrungen sowohl im Herkunftsland als auch am Weg nach Europa verantwortlich.8 Im Einklang damit erwartet die Mehrheit der ExpertInnen zwischen 2015 und 2020 in Europa eine kurzfristige Zunahme wirtschaftlicher und psychischer Vulnerabilität durch Flüchtlinge. Allerdings nimmt die Mehrheit der Befragten nicht an, dass die von Flüchtlingsströmen ausgelöste wirtschaftliche und psychische Vulnerabilität in Europa zwischen 2020 und 2050 weiter ansteigen wird.

Experten zufolge wird soziale Vulnerabilität in Zukunft die größte Herausforderung für Europas Gesellschaften.

Den befragten ExpertInnen zufolge wird die durch Flüchtlingsströme ausgelöste soziale Vulnerabilität in Zukunft die größte Herausforderung für Europas Gesellschaften darstellen. Sechs von zehn Befragten erwarten zwischen 2015 und 2020 eine Zunahme der sozialen Vulnerabilität. Darüber hinaus erwarten mehr als die Hälfte der Befragten, dass die soziale Vulnerabilität auch bis 2050 noch weiter zunehmen wird. Betrachtet man die Ergebnisse nach europäischen Regionen, so findet sich die Mehrheit derer, die keinen Anstieg sozialer Vulnerabilität erwarten, in osteuropäischen Ländern, die 2015/2016 kaum von Asylanträgen betroffen waren, aber besonders strenge Immigrationsgesetze aufweisen.9 Da soziale Vulnerabilität auf Stigmatisierung, Diskriminierung und mangelnde soziale Unterstützung hinweist, ist das Umfrageergebnis auch ein Hinweis darauf, dass sich die Befragten hauptsächlich um den sozialen Zusammenhalt in den europäischen Gesellschaften sorgen.

Wieso sollte soziale Vulnerabilität in Europa durch Flüchtlinge langfristig zunehmen? Während des Wartens auf die Asylentscheidung gelten in der Regel strenge Verhaltensregeln, die intensiven Kontakt zur Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft erschweren. Auch der fehlende Zugang zum Arbeitsmarkt stärkt die Integration nicht. Beides kann zur Segregation und Isolierung führen. Hinweise auf vermutlich entscheidendere Faktoren findet man aber in den öffentlichen Debatten der letzten Jahre. Erstens waren die EuropäerInnen selbst gespalten: Die eine Gruppe hieß Flüchtlinge willkommen, während die andere Angst vor einer „Invasion“ durch Fremde hatte.10 Daraus resultierte eine gewisse gesellschaftliche Polarisierung. Zweitens wurden AsylwerberInnen in zwei Kategorien eingeteilt: in legitimer Weise hilfsbedürftige Personen auf der einen und solche mit überwiegend wirtschaftlichen Motiven auf der anderen Seite.11 Die Darstellung der Zuwanderung als „Problem“ in den Medien12 beförderte Sorgen etwa hinsichtlich eines „Sozialhilfe-Shopping“ oder der Bereitschaft von Flüchtlingen, sich an die Kultur der Aufnahmegesellschaften anzupassen.13 Drittens, und das scheint am wichtigsten zu sein, haben viele EuropäerInnen Angst vor Terrorismus. Asylsuchende werden in diesem Kontext mitunter als Ziele einer Beeinflussung durch terroristische Organisationen und daher als potentielle Bedrohung betrachtet.14 Es ist anzunehmen, dass durch diese Vermengung von Flucht und Terrorismus der soziale Zusammenhalt doppelt geschwächt wird: Die Darstellung von Flüchtlingen als potentiell gewalttätige Kriminelle dürfte zum einen die Unterstützung für diese in der Bevölkerung verringern und zum anderen das Gefühl der Entfremdung unter diesen noch verstärken.

Politikempfehlungen zur langfristigen Vermeidung sozialer Vulnerabilität.

Die möglichen politischen Auswirkungen dieser Entwicklungen sind vielfältig. Sie beziehen sich auf wirtschaftliche, psychische und soziale Aspekte. Da Vulnerabilität in einem Bereich oft Vulnerabilität in einem anderen auslöst, sind mehrdimensionale Ansätze erforderlich.

  • Wirtschaftliche Integration ist ein Punkt. Die Flüchtlinge, die im Jahr 2015 angekommen sind, sind in der Regel bereit, zu arbeiten.15 Es ist erforderlich, ihnen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Sprachunterricht und Ausbildung am Arbeitsplatz würden die Integration in die Belegschaft erleichtern. Kompetenzen der Flüchtlinge könnten so besser eingesetzt und daher wirtschaftliche Zugewinne für das Einwanderungsland erhöht werden. Noch wichtiger ist die Investition in Flüchtlingskinder.16 Schulen, die diese aufnehmen, müssen auf diese Aufgabe vorbereitet werden.17 Die wirtschaftliche Integration würde auch bei der sozialen Integration helfen. Wo Märkte und lokale Behörden keine ausreichenden Möglichkeiten zur wirtschaftlichen und sozialen Integration schaffen, sind MigrantInnen zumeist auf Menschen gleicher Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit angewiesen. Diese Netzwerke bieten organisatorische, emotionale und soziale Unterstützung, bergen jedoch die Gefahr von Segregation und Isolierung.18
  • Die Behandlung psychischer Probleme ist ein weiterer Punkt. Psychische Probleme enden nicht mit einem erfolgreichen Asylverfahren oder wirtschaftlicher Integration. Es muss Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass traumatische Erlebnisse auch nach Jahren noch Auswirkungen zeigen. Durch den kulturellen Anpassungsprozess bedingter Stress verstärkt häufig bereits vorhandene psychische Probleme. Kinder sind oft zweifach betroffen: direkt und indirekt durch belastete Eltern. Um die Qualität ihrer Behandlung und damit ihre Chancen zu verbessern, sind ausreichende Ressourcen für eine langfristige psychologische Betreuung und eine entsprechende Ausbildung des Betreuungspersonals vonnöten. Aufgrund des besonderen Ausmaßes an erfahrenen Grausamkeiten, oft sehr spezifischen individuellen Hintergründen und unterschiedlichen kulturellen Begebenheiten, sind selbst Fachleute bei der Betreuung von Flüchtlingen besonders gefordert. Kulturelle Kompetenzen sind von entscheidender Bedeutung.19
  • Der Schwerpunkt dieses Beitrages liegt jedoch bei der sozialen Vulnerabilität. Die Politik sollte das Vertrauen in die Einwanderer und deren Integration stärken, um das gesellschaftliche Klima zu verbessern.20 Erstens scheint es notwendig, im öffentlichen Diskurs die Themen Terrorismus und Asyl strikt voneinander zu trennen.21 Flüchtlinge sind in der Regel keine Bedrohung, sondern vertriebene Menschen auf der Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft. Zweitens sollte die Diskussion, ob sich Asylsuchende ihren Aufenthalt „verdient“ haben, beendet werden. Die Ursache für die Flucht liegt zumeist in politischen Ereignissen begründet, für die die Flüchtlinge nicht selbst verantwortlich sind.22 Drittens muss der Mensch wieder in den Vordergrund der Debatte gerückt werden. Solidarität wird eher gestärkt, wenn wir erkennen, dass wir über Menschen in Not sprechen.23 Inkludiert die lokale Politik die ZuwandererInnen indem sie ihnen die Teilhabe an öffentlichen Initiativen ermöglicht, so werden ihre Fähigkeiten für das Wohlergehen der Gemeinde genutzt24 und dadurch auch der gesellschaftliche Mehrwert von Migration aufgezeigt.

Die öffentlichen und politischen Debatten, die im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ aufgekommen sind, fokussieren zu sehr auf den Grenzschutz, Asylverfahren, Sicherheitsaspekte und wirtschaftliche Konsequenzen. Das sind zweifelsohne wichtige Themen, doch dürfen damit verbundene Herausforderungen für den sozialen Zusammenhalt innerhalb der europäischen Gesellschaften nicht ignoriert werden. Öffentliche Diskurse sollten dementsprechend modifiziert und die Investitionen in (die Integration der) Flüchtlinge erhöht werden.25 //

1   „Policy“-Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE), leicht verändert: https://oegfe.at/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/OEGfE_Policy_Brief-2017.25_Riederer.pdf [24-06-2018].

Die österreichische Gesellschaft für Europapolitik ist eine parteipolitisch unabhängige Plattform, gebildet von den österreichischen Sozialpartnern. Sie informiert über europäische Integration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und ihre Relevanz für Österreich. Die ÖGfE verfügt über langjährige Erfahrung in Bezug auf die Förderung europäischer Debatten und agiert als Katalysator zur Verbreitung von europapolitischen Informationen.

2   Siehe z.B.: Göbl, Gabi; Lassen, Kvorning Christian; Lovec, Marko; Nic, Milan; & Schmidt, Paul (2016): Central Europe and the refugee question: cooperation, not confrontation. In: ÖGfE Policy Brief, 22’2016; Melander, Annika; Pichelmann, Karl (2015): An economic assessment of asylum seeker inflows: Spectacular and disturbing images, unspectacular macro-economic impact. In: ÖGfE Policy Brief, 37’2015. Eurofound (2016): Approaches to the labour market integration of refugees and asylum seekers. Luxembourg: Publications Office of the European Union.

3   Siehe Eurofound (2016).

4   Bundesgesetz zur Integration rechtmäßig in Österreich aufhältiger Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Verfügbar unter: https://www.ris.bka.gv.at/ [21.6.2018].

Siehe Göbl, et al. (2016) und Wolf, Walter (2016): Die Flüchtlingskrise und die territoriale Kohäsion: Eine verbesserte Armutsbekämpfung in Europas östlichen Regionen als Voraussetzung für einen EU-Konsens in der Flüchtlingsverteilung. In: ÖGfE Policy Brief, 2’2016.

Die TeilnehmerInnen gaben ihre Einschätzung jeweils für jene europäischen Länder und jene Dimensionen von Vulnerabilität ab, mit denen sie gut vertraut sind. Für Details siehe: Riederer, Bernhard; Mynarska, Monika; Winkler-Dworak, Maria; Fent, Thomas; Rengs, Bernhard; & Philipov, Dimiter (2017): Futures of families in times of multifaceted societal changes: a foresight approach (FamiliesAndSocieties Working Paper No. 66). Verfügbar unter: http://www.familiesandsocieties.eu/wp-content/uploads/2017/01/WP66-Riedereretal2017.pdf [21.6.2018].

OECD (2016): Making integration work: Refugees and others in need of protection. Paris: OECD Publishing.

Wenzel, Thomas; & Kinigadner, Sonja (2016): Auf der Flucht. In: Psychologie in Österreich, 36 (3), 135–143.

Riederer et al. (2017).

10  Holmes, Seth M.; & Castañeda, Heide (2016): Representing the “European refugee crisis” in Germany and beyond: Deservingness and difference, life and death. In: American Ethnologist, 43 (1), 12–24.

11  Esses, Victoria M.; Hamilton, Leath K.; & Gaucher, Danielle (2017): The global refugee crisis: Empirical evidence and policy implications for improving public attitudes and facilitating refugee resettlement.
In: Social Issues and Policy Review, 11 (1), 78–123.

12  Berry, Mike; Garcia-Blanco, Inaki; & Moore, Kerry (2015): Press coverage of the refugee and migrant crisis in the EU. A content analysis of five European countries, 5. Verfügbar unter:
http://www.unhcr.org/56bb369c9.html [21.6.2018].

13  Dalla Zuanna, Gianpiero; Hein, Christopher; & Pastore, Ferrucio (2015): The pitfalls of a European migration policy: Migration and political challenges in times of crisis in the EU (Population & Policy Compact, Policy Brief No. 09). Verfügbar unter: http://www.population-europe.eu/policy-brief/pitfalls-european-migration-policy-0 [21.6.2018].

14  Siehe: Esses et al. (2017) sowie Holmes & Castañeda (2016).

15  Siehe: Buber-Ennser, Isabella; Kohlenberger, Judith; Rengs, Bernhard; Al Zalak, Zakarya; Goujon, Anne; Striessnig, Erich; et al. (2016): Human capital, values, and attitudes of persons seeking refuge in Austria in 2015. In: PLoS ONE, 11 (9), e0163481. doi:10.1371/journal.pone.0163481.

16  Dalla Zuanna et al. (2015).

17  Siehe: Eurofound (2016).

18  IOM (2015): World Migration Report 2015. Migrants and cities: New partnerships to manage mobility. Geneva: International Organization for Migration. Verfügbar unter: http://publications.iom.int/system/files/wmr2015_en.pdf

19  Siehe: Wenzel & Kinigadner (2016).

20  Siehe: Dalla Zuanna et al. (2015).

21  Carrera, Sergio; Blockmans, Steven; Gros, Daniel; & Guild, Elspeth (2015): The EU’s response to the refugee crisis: Taking stock and setting policy priorities (CEPS essay No. 20). Brussels: Centre for European Policy Studies, 15.

22  Holmes & Castañeda (2016).

23  Esses et al. (2017), 87.

24  IOM (2015).

25  Die Forschung, die zu diesem Policy-Brief führte, wurde im Rahmen des Forschungsprojekts FamiliesAndSocieties durchgeführt, das durch das 7. EU Rahmenprogramm finanziert wurde (FP7/2007–2013; grant agreement no. 320116).

Riederer, Bernhard (2018): Die Herausforderung des sozialen Zusammenhalts: Zu den langfristigen Folgen der Flüchtlingskrise 2015 für Europa. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2018, Heft 264/69. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben