Klaus Ahlheim: Zwischen Arbeiterbildung und Erziehung zur Volksgemeinschaft. Protestantische Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik.
Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft. Bd. 10, Hannover: Offizin Verlag 2015, 160 Seiten.

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Wer denkt, die Geschichte der Erwachsenenbildung sei angesichts der zahlreichen Publikationen in den letzten Jahrzehnten für Deutschland bereits geschrieben, irrt. Es gibt noch immer wenig ausgeleuchtete, aber relevante Bereiche, wie die konfessionell gebundene Bildungstätigkeit – vor allem die weitgehend vergessene protestantische. Sie ist aufgrund der religiösen Struktur des Landes in Deutschland ungleich bedeutsamer als in Österreich.

Klaus Ahlheim, führender Vertreter einer kritischen politischen Bildung, hat mit dem Buch über die „protestantische Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik“, so der Untertitel, in der von ihm im Offizin-Verlag herausgegebenen Reihe „Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft“, in mehrfacher Weise Abhilfe geschaffen. Es wird evangelische Erwachsenenbildung kritisch thematisiert, für die historische Arbeiterbildung mit den protestantischen Sozialisten ein neues Kapitel aufgeschlagen und mit Emil Blum, Emil Fuchs und Carl Mennicke werden längst vergessene Theoretiker und Praktiker der Erwachsenenbildung vorstellt. Allein Blum ist Mitte der 1960er-Jahre in einer heute noch lesenswerten Studie von Hildegard Feidel-Mertz „Zur Ideologie der Arbeiterbildung“ rezipiert worden. Da die Genannten mehrheitlich in Volkshochschulbezügen agierten, ist das Buch überdies ein Beitrag zur Volkshochschulgeschichte und zugleich eine Anregung, ihre protestantische „Richtung“ nicht nur für Deutschland aufzuarbeiten.

Ahlheim kommt über die politische Bildung zur Thematik und deutet seinen kritischen Zugang dazu bereits mit dem Titel an: „Zwischen Arbeiterbildung und Erziehung zur Volksgemeinschaft“. Die Arbeit ist historisch, bildungstheoretisch und ideologiekritisch ausgerichtet und sehr lesbar verfasst, jedenfalls ohne nähere Kenntnisse der Geschichte der Erwachsenenbildung und des Protestantismus gut zu lesen.

Im umfangreichen ersten Kapitel über „Die Erwachsenenbildung der religiösen Sozialisten“ (S. 10–115) kann der Autor pauschale Urteile in heute als „Klassiker“ der kritischen Erwachsenenbildungshistorie geltenden Studien von Dirk Axmacher und Werner Markert relativieren, wonach die in der Weimarer Republik hegemoniale „neue Richtung“ „im Grunde ganz und gar reaktionär und gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet gewesen, ja letztlich prä-faschistisch“ (S. 12) gewesen sei. Am Beispiel der Heimvolkshochschule Habertsdorf von Emil Blum zeigt der Autor, dass sich die historische Arbeiterbildung und die historische Volkshochschule keineswegs ausschließen – im Gegenteil. Versteht man Bildungsarbeit unter hegemonialen und kapitalismuskritischen Gesichtspunkten, sind breitere Bündnisse – personell, inhaltlich und institutionell – geradezu erforderlich. Die „religiösen Sozialisten“ haben dazu beigetragen. Dabei sind Fuchs, Blum und Mennicke „repräsentativ in dem, was sie voneinander unterscheidet. Sie verkörpern jeweils eine Spielart der in sich vielfach differenzierten religiös sozialistischen Bewegung“. (S. 26).

Emil Fuchs (1874–1971) war während seiner Volksbildungsarbeit hauptberuflich Pfarrer. 1919 war er an der Gründung der Volkshochschule Thüringen beteiligt. Beeinflusst wurde er von den Quäkern und ihren „Adult Schools“ und „Educational Settlements“, womit er über den Tellerrand national begrenzter Volksbildung hinaussah. 1921 schloss er sich der Sozialdemokratie an und gründete eine Gruppe der religiösen Sozialisten in Thüringen. 1931 wurde er Professor für Religionswissenschaften an der pädagogischen Akademie in Kiel und verlor als Sozialdemokrat 1933 die Stelle. Nach einer Gefängnishaft und verschiedenen Tätigkeiten emigrierte er bis 1945. In der DDR erhielt er einen Ruf an die Universität in Leipzig als Professor für christliche Ethik und Religionsphilosophie.

Carl Mennicke (1887–1959) war beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges Vikar in Godesberg und fand während seines Dienstes beim Heer Kontakt zum Industrieproletariat. Innerhalb der konservativ geprägten Kirche sah er keine Chance, für das Proletariat und den gesellschaftlichen Fortschritt einzutreten. Chancen sah er dagegen in der Bildungsarbeit und in der sozialistischen Kulturbewegung. Die Selbsthilfe des Proletariats wurde seine Perspektive. Politisch schloss er sich der USPD an. Beruflich wird er Dozent an der Soziologischen Abteilung der neugegründeten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin. Er brachte sich in den „Berliner Kreis“ ein, der zweitbedeutendsten Gruppierung religiöser Sozialisten in der Weimarer Republik, und leitete seit 1923 ein Seminar für Jugendwohlfahrt, das zu einer Wohlfahrtsschule ausgebaut wurde. Später trennte er sich von der Kirche.

Emil Blum (1894-1978) wuchs in einer bürgerlichen Familie in der Schweiz auf, wurde Pfarrer und gab die Stelle auf, da ihn als Sozialdemokrat die Gemeinde nicht mehr tragen wollte. Er übersiedelte nach Hessen und eröffnete am 1. Juni 1924 die „Heimvolkshochschule Habertsdorf“, die er bis 1933 leitete und die von einem „religiös begründeten Sozialismus“ (S. 39) inspiriert war und sich als Teil der Arbeiterbewegung und der Arbeiterbildung verstand.

Der Autor analysiert die Bildungstätigkeit und die Bildungskonzepte seiner Protagonisten und setzt sie in Bezug zur „neuen Richtung“ der Volksbildung. Er stellt auch Gegenwartsbezüge her. Das alles ist außerordentlich kenntnisreich und bereichernd für die Historiografie der Erwachsenenbildung und der institutionell weit verstandenen Volkshochschule. Wie bei Ahlheim nicht anders zu erwarten, handelt es sich auch um einen Beitrag zur politischen Bildung, in dem die Analyse von Bildungskonzepten und -theorien mit methodisch-didaktischen Fragen verknüpft wird. Dabei bilanziert Ahlheim die erwachsenenbildnerischen Lebenswerke von Fuchs, Blum und Mennicke differenziert und stellt beispielsweise für Blum fest: „Resignatives und Progressives“ liegen bei ihm „eng zusammen“. (S. 89). Er geht auf die „theologische Dimension“ ein, wobei implizit deutlich wird, dass ohne einschlägige Kenntnisse kaum umfassende Analysen auf diesem Gebiet angestellt werden können. Das gilt beispielsweise auch für die Auseinandersetzung mit Grundtvig.

Für seine Protagonisten stellt der Autor im Hinblick auf theologische Positionen fest: „So unterschiedlich die Stellung der hier Dargestellten in den kirchlichen Institutionen auch war […] stimmten (sie), was ihre kirchliche und theologische Position und Begründung ihrer Bildungsarbeit betrifft, in zwei wesentlichen Punkten überein: Sie haben ihre Erwachsenenbildungsarbeit, zumindest für sich selbst, mehr oder weniger ausgeprägt als eine von protestantischer Theologie bestimmte und motivierte verstanden, und sie verbanden dieses Grundverständnis jeweils mit einer äußerst scharfen Kritik an der Realität der kirchlichen Institution.“ Damit ist der grundlegende Konflikt benannt, der „protestantische, d. h. kirchliche, in kirchlicher Trägerschaft geleistete Erwachsenenbildung bis in die neue Diskussion bestimmt“. (S. 96).

Im zweiten Kapitel „‚Wir müssen Missionare sein, Missionare der Volksgemeinschaft‘. Hans von Lüpcke, die Dorfkirchenbewegung und die Heimvolkshochschulen“ (S. 116–140) greift der Autor ein in der Erwachsenenbildungshistoriografie nahezu unbearbeitetes Thema mit einem unbekannten Exponenten auf.

Lüpcke (1866–1934), den Ahlheim in einem Gegensatz zu den religiösen Sozialisten stellt, ist weniger durch eigene pädagogisch-praktische Volksbildungsarbeit, denn als ‚Anreger, Organisator und Publizist‘ hervorgetreten“. (S. 116 f.). Lüpcke verstand „Volksbildung“ als „Volk-Bildung“, wie das in der Weimarer Republik weit verbreitet war. Anzumerken ist, dass die Exponenten dieser Volksbildung in einem Gegensatz zu den rationalistischen, auf Denkschulung setzenden Wiener Volksbildnern der demokratischen Periode der Zwischenkriegszeit standen, insbesondere zum bereits 1924 verstorbenen Ludo Moritz Hartmann. (Aber auch in Wien gab es nicht nur rationalistische Volksbildner.)

Lüpcke vertrat die These, in der Volksbildung ginge es nicht um „Popularisierung“, sondern um „Volkstümlichkeit“: „‚Volkstümlichkeit ist ein neues Hervorbringen all des Großen aus dem Volks-Geist, nachdem man es zum Eigentum der eigenen Seele gemacht hat‘“. (S. 127). Dazu Ahlheim: „Die eigene vom Volksgedanken geprägte Sichtweise wird […] ganz und gar nicht hinterfragt, sie wird vielmehr radikalisiert und verbindet sich, mehr oder weniger deutlich, mit antidemokratischen, zumindest demokratieskeptischen Denkelementen und Argumentationsfiguren“. (S. 127).

Angesichts gegenwärtiger Entwicklungen in Europa sollte man dieses Verständnis von „Volksbildung“ nicht als bloß historisches abtun. Es kann, etwas anders gewandet, wieder auferstehen oder ist da und dort bereits in Ansätzen vorhanden.

„Hans von Lüpcke, obwohl kein eifernder Verfechter der Rassenlehre oder glühender Antisemit, wie viele seiner Gefährten im Kontext der ländlichen Heimvolkshochschulen, hat mit seiner Hypostasierung der Volksgemeinschaft und des Volksgedankens den verhängnisvollen und folgenreichen politischen Irrationalismus des nationalsozialistischen Deutschlands in […] ‚direkter Linie‘ vorbereitet. Das war kein zufälliges Übereinstimmen, schon gar kein schreckliches Versehen, das war Kontinuität und logische Aufeinanderfolge – und das wiegt umso schwerer, als Hans von Lüpcke, anders als er einmal selbst eher kokettierend von sich sagte und man heute beim Lesen seiner Texte meinen könnte, in Kirche und Volksbildung nicht unbedingt ein Außenseiter war.“ (S. 139).

Den Abschluss des Bandes macht statt eines Nachwortes das kurze Kapitel „1933 und der Kampf um die Seele des Volkes“ (S. 151–150), in dem der Autor auch auf Gegnerschaft zum Nationalsozialismus eingeht, aber ebenso Tendenzen in dessen Dienst benennt. „Hier wird eine theologisch begründete Anthropologie sichtbar, die den starken, ja autoritären Staat fordert, weil zumindest die Mehrheit der Menschen (bei den Führern ist es offenbar anders) zu einem sinnvollen geordneten und friedlichen Zusammenleben nicht taugt – eine Position, die Traditionen erkennen lässt, die das Entstehen des Faschismus begünstigten und auch nach 1945 nicht einfach verschwunden waren. Theorie und Bildungspraxis der religiösen Sozialisten dagegen hatten sich erst einmal erledigt.“ (S. 150).

Obwohl nach der Zahl der Seiten eher schmal, gehört der Band zu den wichtigsten erwachsenenbildungshistorischen Studien der letzten Jahre. //

Filla, Wilhelm (2015): Klaus Ahlheim, Zwischen Arbeiterbildung und Erziehung zur Volksgemeinschaft. Protestantische Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Dezember 2015, Heft 257/66. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien

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