Die weibliche Seite der Volkshochschule
Heute ist die Volkshochschule weiblich: Nicht nur, dass mehr als drei Viertel aller Teilnehmenden weiblich sind – auch mehr als die Hälfte des administrativ-pädagogischen Personals ist dies. Der hohe Anteil an Frauen in den mittleren und höheren Leitungsebenen der österreichischen Volkshochschulen würde wohl sämtliche „Gleichbehandlungsbeauftragten“ im öffentlichen Dienst und erst recht in der Privatwirtschaft – wenn sie davon wüssten – vor Neid erblassen lassen.ii Aber vermutlich liegt der tiefere Grund dafür lediglich im geringen gesellschaftlichen Stellenwert der heutigen Erwachsenenbildung im Allgemeinen und in der geringen materiellen Entschädigung – ein Charakteristikum für „klassische“ Frauenberufe – im Besonderen.
Dies war nicht immer so: Denn am Beginn der vereinsmäßigen Etablierung der Volksbildung in den 1870er- und 1880er-Jahren sowie zur Zeit ihrer, sich auch in eigenen Volksbildungshäusern vollziehenden Institutionalisierung im „Wien um 1900“ war die Volksbildung überwiegend ein „Geschäft“ der Männer – konkreter gesagt: eines der bildungsbürgerlichen intellektuellen Eliten der ausgehenden Habsburgermonarchie, die als Initiatoren, Organisatoren und Vortragende populärwissenschaftlicher Veranstaltungen natürlich kein Geld verdienten, sondern ihre volksbildnerische „Mission“ als einen altruistischen Dienst am Volk und an der Gesellschaft verstanden. Diese männliche Dominanz ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die damalige superiore Stellung des Mannes in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Wissenschaft vor Augen führt – respektive die Verortung der Frau primär im privaten, nichtöffentlichen Bereich und ihre vergleichsweise gesellschaftliche und bildungsmäßige Inferiorität.
Prominente sowie heute vergessene Frauen
Freilich – im Kreis der Proponenten zur Errichtung von Volksbildungseinrichtungen, in den Vorständen und Ausschüssen der Volksbildungsvereine, im Kreis der Vortragenden und Kursleiter sowie unter der Teilnehmerschaft, fanden sich stets auch Frauen, wenngleich im geringen Ausmaß und in unterschiedlicher Gewichtung: Bildungsveranstaltungen aus „weichen“ sprach-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Fächern zogen bereits damals mehr die Frauen an, die „harten“ Naturwissenschaften und die technischen Fächer mehr die Männer. Als Funktionäre, Vortragende und Kursleiter fanden sich in der Zeit zwischen 1890 und 1938 zahlreiche prominente – zum Teil aber auch heute weitgehend vergessene – Frauen, die in ihrem jeweiligen Fachgebiet oft Bedeutendes geleistet haben: so etwa die Malerin Tina Blau (1845–1916), die Tänzerin Rosalia Chladek (1905–1995), die Frauenrechtlerin Auguste Fickert (1855–1910), die Sozialpsychologin Else Frenkel-Brunswik (1908–1958), die Individualpsychologin Alice Friedmann (1897–1980), die Schriftstellerin Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931), die Lyrikerin und Publizistin Mimi Grossberg (1905–1997), die Frauenrechtlerin Marianne Hainisch (1839–1936), die Pädagogin Eleonore Jeiteles (1841–1918), die Frauenrechtlerin Margarete Jodl (1859–1937), die Bibliothekarin Emma Lampa (1873–1938), die Sprachlehrerin Amelia Sarah Levetus (1858–1938), die Malerin Gerda Matejka-Felden (1901–1984), die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder (1858–1938), die Physikerin Lise Meitner (1878–1968), die Historikerin Margarete Merores (geb. 1881), die Schriftstellerin und Soziologin Katharina Migerka (1844–1922), die Romanistin Elise Richter (1865–1943), die Anglistin Helene Richter (1861–1942), die Frauenrechtlerin Olly Schwarz (1877–1960), die Germanistin und Schuldirektorin Eugenie Schwarzwald (1872–1940), die Physikerin Olga Steindler (1879–1933), die Kunsthistorikerin Melanie Stiassny (1876–1960), die Germanistin Christine Touaillon (1878–1928) oder die Historikerin Lucie Varga (1904–1941).iii
Lucie Varga und das „finstere“ Mittelalter
Bleiben wir doch gleich bei letzterer: Lucie Varga wurde als Rosa Stern am 21. Juni 1904 in Baden bei Wien geboren.iv Sie entstammte einem wohlhabenden, jüdisch-assimilierten und großbürgerlich-liberalen Elternhaus. Nach dem Besuch der fortschrittlichen Wiener Privatschule Eugenie Schwarzwalds studierte sie ab Herbst 1926 mittlere und neuere Geschichte sowie Kunstgeschichte an der Universität Wien. Mit ihrer Studie zum „Schlagwort vom ,finsteren Mittelalter‘ “ promovierte sie im Juni 1931 beim bedeutenden österreichischen Mediävisten Alfons Dopsch.v Bereits im folgenden Jahr hielt Varga zum gleichen Thema ihren ersten Vortrag an der Urania Wien: Am Abend des 29. Septembers 1932 präsentierte sie im Klubsaal des Wiener Volksbildungshauses ihre Forschungsergebnisse zur Geschichte dieser Metapher von der Zeit des Mittelalters über die Renaissance und Reformation zur Aufklärung und Romantik, und legte die Position der zeitgenössischen Geschichtsforschung sowie der Literatur zum Mittelalter dar. In den Mitteilungen der Urania Wien wurde ihr Vortrag mit dem Titel: „Das Schlagwort vom finstern Mittelalter“ [sic!] angekündigt.vi Kurz darauf, am 5. Oktober 1932, begann ihr erster und einziger Volkshochschulkurs mit dem Titel „Europäische Kulturgeschichte. Mit Lichtbildern“, der sich über das Winterhalbjahr 1932/33 bis zum 25. Jänner 1933 erstreckte. Laut Programmankündigung erstrebte der Kurs die „Beschreibung und Charakteristik der einzelnen Epochen geistiger Kultur in Westeuropa“, die Verlebendigung der repräsentativen Persönlichkeiten sowie die Erörterung der „Grundlagen unserer Kultur“ (Spätantike, Christentum, Germanentum). Behandelt wurden die Perioden des Mittelalters, die Zeit der „Auflösung des Mittelalters“, Renaissance und Humanismus, die Zeit der Aufklärung und der Romantik sowie die Periode des Positivismus und des Materialismus. Der Kurs wurde im Stammhaus der Urania am Aspernplatz im ersten Wiener Gemeindebezirk im Lehrsaal III stets mittwochs von acht bis viertelzehn Uhr abgehalten und kostete sieben Schilling.vii Knapp vor Beendigung ihres Volkshochschulkurses hielt Varga am 21. Jänner 1933 im Kurssaal der Urania den Vortrag „Frauen im Mittelalter“. Hier erörterte sie die Stellung der Frau des Mittelalters in Theologie, Recht, Literatur und bildender Kunst und veranschaulichte dies anhand konkreter Beispiele mittelalterlichen Frauenlebens: „Brunhildis“ (7. Jahrhundert), „Walrada“ (9. Jahrhundert), Königin Mathilde (11. Jahrhundert), Hildegard von Bingen (12. Jahrhundert) sowie der Bäuerin und Bürgerin im 13. und 14. Jahrhundert.viii Am 25. März 1933 folgte im Klubsaal der Urania ihr Vortrag „Die Sekten des Mittelalters und ihre soziale Bedeutung“, worin sie die Voraussetzungen und Ursachen des Sektierertums, die verschiedenen Sektentypen und ihre Anhängerschaft (Katharer, Waldenser, Arnoldisten sowie die eschatologischen Sekten) besprach, auf den Sektensynkretismus zu Ende des Mittelalters sowie auf John Wyclif, Jan Hus und die Bauerbewegung einging.ix Ihr letzter Urania-Vortrag vom 1. April 1933 trug den Titel „Das soziale und psychologische Problem der Hexe“, worin sie – abermals im Klubsaal – die Dimensionen des Begriffs „Hexe“ am Ende des Mittelalters auslotete, auf das Frauenbild vom 13. bis zum 15. Jahrhundert einging, und sich die Frage stellte, wie es am Ende des Mittelalters zur Hexenverfolgung kam. Dabei ging sie auf den Dualismus in der Sektendogmatik – womit der „manichäische“ Dualismus zwischen Gut und Böse vor allem bei den mittelalterlichen Ketzergruppen der Bogomilen und Katharer gemeint war –, die Rezeption des Dämonenglaubens in der Scholastik sowie auf den Zusammenhang zwischen Hexen- und Ketzerprozessen sowie Hexenprozessen und Bauernaufständen ein.x
Lucie Varga und die „politischen Religionen“ vom Mittelalter bis zum Nationalsozialismus
Ihre Vortrags- und Kurstätigkeit an der Urania Wien zwischen September 1932 und April 1933 fiel in eine – freilich nicht nur für Varga – turbulente „Zeitenwende“. 1931 trat sie aus der israelitischen Kultusgemeinde aus. 1932 kam es zur Scheidung von ihrem Mann, dem Internisten Josef Varga, und zur Übersiedlung – gemeinsam mit ihrer 1925 geborenen Tochter – zu ihrer Mutter nach Wien. Dort lernte sie 1933 ihren zweiten Ehemann, den marxistischen Historiker Franz Borkenau-Pollak (1900–1957) kennen. Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland – worauf sich das Titelzitat bezieht – sowie der „Staatsstreich auf Raten“ in Österreich, aber auch das wissenschaftliche Interesse für die Religion der südfranzösischen Katharer des 11. und 12. Jahrhunderts veranlassten Lucie Varga um die Jahreswende 1933/34 gemeinsam mit ihrem Mann und Kind nach Paris zu übersiedeln, wo sie Anfang 1934 den bedeutenden französischen Religions- und Mentalitätshistoriker Lucien Febvre (1878–1956) – Professor am ehrwürdigen Collège de France – kennenlernte, deren Assistentin und Schülerin sie für die nächsten Jahre bis zum Frühjahr 1937 war. Lucien Febvre war gemeinsam mit dem nicht minderbedeutenden Mediävisten Marc Bloch (1886–1944) Begründer der einflussreichen Schule der Annales. Und Varga war die erste Frau, die in der von Febvre und Bloch herausgegebenen Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale – wie sie von 1929 bis 1938 hieß – kontinuierlich publizierte und dabei die Verbreiterung von einer Politik- zu einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte wesentlich mittrug. Als Lucie Varga am 26. April 1941 im Alter von nur 36 Jahren in Toulouse während eines diabetischen Komas verstarb, hinterließ sie kein geschlossenes Werk. Neben ihrer auf Deutsch verfassten Dissertation aus dem Jahr 1931 hinterließ sie lediglich 18 auf Französisch geschriebene Aufsätze und Rezensionen. Diese geben freilich ein beredtes Zeugnis von ihrem breiten akademischen Interesse, ihrer intellektuellen Originalität, ihrer ungewöhnlichen Praxis in der Geschichtsschreibung und ihrem äußerst lebendigen Schreibstil. Trotz der beachtlichen Bandbreite ihrer Forschungsgebiete – so publizierte sie zum Aufkommen des Nationalsozialismus im Vorarlberger Montafon-Tal, zum Hexenglauben im ladinischen Enneberg-Tal in Südtirol während der 1920er- und 1930er-Jahre sowie zur Religion der südfranzösischen Katharer im Mittelalter – kreiste ihr Forschungs- und Erkenntnisinteresse um die sichtbaren und die „unsichtbaren Autoritäten“ im weiten Feld der politischen Religionen: Hexen und Ketzer des Mittelalters, sozial deklassierte Parteigänger und jugendliche Anhänger des Nationalsozialismus erweckten dabei ihr besonderes Forschungsinteresse – zu einer Zeit als es die historische „Hexenforschung“, die „Frauengeschichte“ und die „Mentalitätsgeschichte“ des Nationalsozialismus noch gar nicht gab, respektive noch in den Anfängen steckte. Das unstetige und ungewöhnliche – und wohl auch tragische – Leben von Madame Lucie Varga, ihre heute noch relevante und intellektuell anregende historische Forschungsarbeit, und ihr Scheitern an sichtbaren und unsichtbaren Autoritäten geben Zeugnis von einem bemerkenswerten Frauenschicksal an einer historischen „Zeitenwende“. //
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