Lernen ist ein Prozess, der uns das ganze Leben über begleitet, in formalen oder nicht-formalen Lernsettings, im Beruf und im alltäglichen Leben. Lernen bedeutet Weiterentwicklung, Veränderung, Anpassung an neue Entwicklungen, Stärkung etc. Aber in der Erwachsenenbildung treffen wir oft auch auf Menschen mit negativen Lernerfahrungen, mit Enttäuschungen, Unsicherheiten, verhinderten Schullaufbahnen oder entmutigenden Umgebungen. Um lernwillige Erwachsene unabhängig von ihren Vorgeschichten und Motivationen unterstützen zu können, brauchen ErwachsenenbildnerInnen ein geeignetes Rüstzeug: ein humanistisches Menschenbild, eine zeitgemäße Didaktik mit gut überdachten Lerntheorien und die Bereitschaft, Stolpersteine und eigene Vorurteile wahrzunehmen und auszuräumen.
Die Abfolge beim Lernen ist allgemein bekannt: Aufnahme von Informationen, ihre Verarbeitung und Umsetzung. Wie dieser Vorgang geschieht, ist aber nicht ganz klar und noch immer Thema vieler Theorien, Forschungen und Diskussionen. Wer einen raschen Überblick über einige gängige Lerntheorien sucht, kann sich beim „Holistic Approach to Technology Enhanced Learning“ (vgl. HoTel: o. J.) einige Informationen holen. Dabei handelt es sich um eine von Richard Millwood hypertextmäßig erstellte „Lerntheorie-Mappe“, in der 28 LerntheoretikerInnen und ihre zentralen Lernparadigmen bzw. Sichtweisen vorgestellt werden, die verschiedenen Disziplinen zuzurechnen sind: Erziehungswissenschaft, Psychologie, Philosophie, Sozialanthropologie, Kybernetik, Organisation, Design, Linguistik und Theologie. (Vgl. Millwood: o. J.). Unter den vorgestellten Lerntheorien finden sich zum Beispiel das Erfahrungslernen nach John Dewey und David Kolb, das Entdeckungslernen von Jean Piaget und Jerome Bruner, David Ausubels „Sinnvoll-rezeptives Lernen“, Burrhus F. Skinners radikaler Behaviorismus, Paulo Freires „Kritische Pädagogik“, Neil Flemings Lernstile, Ernst von Glasersfelds Konstruktivismus samt den Ausformungen Sozialkonstruktivismus bzw. Konnektivismus etc. Ausgangsbasis sind sogenannte Schlüsselkonzepte, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln Aspekte des Lernens fokussieren. Genannt werden hier die „Communities of practise“ (Jean Lave & Étienne Wenger), die Konversationstheorie (Gordon Pask), das „double loop learning“ (Chris Argyris & Donald Schön), die „Interpersonalen Beziehungen“ (David H. Hargreaves), die Wissenschaftliche Pädagogik (Maria Montessori), die „Genetische Epistemologie“ (Jean Piaget), „Scaffolding“ (Lev Vygotsky) und „Lernziele“ (Benjamin Bloom). Die Schlüsselkonzepte und Lern-Sichtweisen sind in „Millwoods map“ stichwortartig beschrieben und durch gemeinsame Ansätze vernetzt. Die Art der Darstellung und die knappe Präsentation der Kernelemente regen zum Weiterdenken, zum Präzisieren, zum Fokussieren, zum Ergänzen oder auch zum Ändern an.
Lernen beginnt mit Wahrnehmung – der Umgang mit Verzerrungen wäre auch zu lernen
Der erste Schritt zum Lernen erfolgt über die „Wahrnehmung“. Wie wir Dinge und andere Personen wahrnehmen ist kein passiver, sondern ein aktiver Prozess, der uns dazu führt, Einschätzungen auf der Basis von subjektiv verarbeiteten Beobachtungen zu treffen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Das Ergebnis unserer Erkenntnisse ist ganz und gar nicht gesichert und abhängig von unseren Vorerfahrungen und Annahmen, die oft zu falschen Schlussfolgerungen führen, wie wir sie zum Beispiel bei Sinnestäuschungen erleben, die durch viele Experimente den Beweis finden.
Ähnliches erfahren wir auch bei der Wahrnehmung einer Person, die in uns eine Reaktion bewirkt, die uns ermöglicht, das komplexe Verhaltender des/der Anderen soweit zu begreifen, dass wir ihre Absichten, Motivationen, Emotionen und möglichen Verhaltensweisen einschätzen und daraus Schlussfolgerungen ziehen können. Unsere Eindrücke und Schlussfolgerungen haben einen großen Einfluss darauf, wie wir in diesen Situationen reagieren. Besonders wichtig ist der erste Eindruck, weil er einen Bezugsrahmen schafft, mit dem wir in unserer Wahrnehmung die Informationen über die andere Person interpretieren. Wenn Informationen zu dieser Person später dazukommen, werden sie mit diesem Bezugsrahmen verbunden. Gelingt das nicht, weil die späteren Informationen nicht mit dem ersten Eindruck übereinstimmen, neigen wir dazu, sie soweit zu verzerren, dass sie in den Bezugsrahmen hineinpassen. Da wir bei Begegnungen mit unbekannten Personen eine rasche Einschätzung brauchen, stellen wir den Bezugsrahmen schnell her und bilden simple Zuordnungs-Kategorien, die oft auf Vorurteilen beruhen.
Ein häufiger Beurteilungsfehler ist der sogenannte „Halo-Effekt“, der schon 1907 von Wells beobachtet wurde und zumindest seit den 1970er-Jahren im Psychologiestudium vermittelt wurde. (Vgl. Ruch-Zimbardo: 1975). Wenn man Eigenschaften einer Person einschätzt, tut man dies gewöhnlich auf der Basis eines allgemeinen positiven oder negativen Eindrucks, die mit den eigenen Vorlieben und Wertehaltungen verglichen werden. Ist z.B. einer Person Höflichkeit sehr wichtig, so neigt sie dazu, Personen, die sich höflich benehmen, auch mit anderen positiven Eigenschaften zu assoziieren, also z. B. mit Freundlichkeit, Intelligenz etc. Hier wird zusätzlich unbewusst ein sogenannter „logischer Fehler“ begangen, indem angenommen wird, dass bestimmte Eigenschaften immer zusammenhängen müssen, auch wenn es dafür kein beobachtetes Verhalten als Beweis gibt.
Ein häufiger Beurteilungsfehler besteht auch darin, dass man die Variabilität der Eigenschaften von Personen unterschätzt und dazu neigt, sie grundsätzlich als gut, mittelmäßig oder durchschnittlich anzunehmen. Auf Grund dieser Fehlannahmen werden Personen meistens als gleichbleibender beurteilt als sie tatsächlich sind, während sich ihr Verhalten bei verschiedenen Situation völlig verändern kann.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts erlauben neue Ergebnisse in der Gehirnforschung auch interessante Rückschlüsse darauf, „wie“ und „warum“ wir so wahrnehmen und lernen.
Im Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ legt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman dar, wie das Gehirn zu voreiligen Schlussfolgerungen kommt. Diese ergeben sich seiner Auffassung nach aus der Tatsache, dass unser Gehirn in zwei Systemen denkt: Während es im ersten System schnell, automatisch, aktiv, emotional, stereotypisierend und unbewusst denkt, agiert es im zweiten System langsam, anstrengend, selten aktiv, logisch, berechnend und bewusst. Daraus ergeben sich laut Kahnemann verschiedene Effekte, die unsere Entscheidungen beeinflussen. Sie bestimmen unsere Urteilskraft oder fördern im Zuge einer „kognitiven Leichtigkeit“ Verzerrungen und Fehlschlüsse. (Vgl. Kahneman: 2012). Ein besonderes Merkmal ist dabei, dass das Gehirn nur gegenwärtig verfügbare Informationen verarbeitet und andere, die (temporär) nicht aus dem Gedächntis abgerufen werden können, ausklammert, als würden sie gar nicht existieren. Das erste System konstruiert also rasche „Geschichten“ auf der Basis von verfügbaren Informationen; bei fehlenden Informationen, oder wenn diese nicht ausreichen, verhilft es sich mit „Urteilssprüngen“. Das Motto ist: „What you see is all there is“ oder anderes ausgedrückt: „Nur was man gerade weiß, zählt.“ Diese Gehirn-Funktion führt oft zur Selbstüberschätzung, da die Möglichkeit, dass die Informationen falsch sein könnten, erst gar nicht in Erwägung gezogen wird und Zweifel oder Ambiguität nicht zugelassen werden. (Kahneman: 2012, 112 ff.).
Der US-Internet-Blogger Buster Benson hat anhand einer Analyse der englischen Ausgabe von Wikipedia über 170 unbewusste Fehlschlüsse bzw. Verzerrungen herausgefiltert und diese als „Cognitive Bias Cheat Sheet“ publiziert. (Vgl. Benson: 2016). Sein Kollege John Manoogian III veröffentlichte die Informationen in Form einer Graphik als „Cognitive Bias Kodex 2016“. (Vgl. Manoogian: o. J.). Mittlerweile gibt es dazu auch Kurzfassungen in deutscher Sprache. (Vgl. z. B. Wondrak: 2016).
(Mindestens) Vier Problemfelder bei kognitiven Verzerrungen
Das Problemfeld eins bezieht sich auf die „Informationsflut“, die täglich auf uns einwirkt, was das Gehirn veranlasst, die wichtigsten Informationsteile herauszufiltern. Dabei ergibt sich, dass unsere Aufmerksamkeit sehr selektiv funktioniert und Informationen, die oft wiederholt werden oder neu ins Gedächtnis kommen, illusorisch als Wahrheiten ansieht und bevorzugt verarbeitet. Der sogenannte „Anchoring Bias“ besteht darin, dass wir bereits bekannte Informationen gerne für unsere eigene Entscheidungsfindung nützen. In der Praxis der Erwachsenenbildung erleben wir oft, dass die als erstes genannte Position am Beginn einer Diskussionsrunde als Ausgangspunkt („Anker“) für die nächsten Äußerungen genommen wird, anstatt dass sich die anderen DiskutantInnen davon unabhängig äußern. Eine weitere Verzerrung entsteht dadurch, dass das Gehirn lustige, bizarre Informationen eher in Erinnerung behält als langweilige oder unspektakuläre („Bizzarreness-Effect“). Auch wird Informationen, die den eigenen Vorstellungen entsprechen, ein höherer Stellenwert zugemessen als anderen, vielleicht sogar gegensätzlichen Informationen, woraus sich eine Bestätigungs-Verzerrung ergibt („Confirmation-Effect“). Zum „Framing Bias“ wiederum kommt es, wenn wir uns davon beeinflussen lassen, ob Informationen subjektiv gut oder schlecht präsentiert werden. So werden Ideen, die enthusiastisch vorgetragen werden oft wesentlich besser bewertet als Argumente, deren VertreterIn müde, unkonzentriert oder aggressiv wirkt. Eine oft erlebte Wahrnehmungsverzerrung zeigt sich auch daran, dass Fehler bei anderen Menschen leichter erkannt werden als bei sich selbst, wie der „Blinde-Fleck“-Effekt zeigt.
Das zweite Problemfeld ergibt sich aus der oft zu geringen Aussagefähigkeit von Informationen. Diese Situation erzeugt in uns das Bedürfnis, die Lücken zu schließen, indem fehlende Informationen durch unsere eigenen Erfahrungen ersetzt werden, was die Gefahr von fälschlicher Zuschreibung von Eigenschaften birgt. Auch werden Menschen und Dinge bevorzugt, die einem ähnlich sind. Im umgekehrten Fall, im sogenannten „Cross-Race-Effect“, werden dagegen Gesichter, die nicht der eigenen Ethnie entsprechen, schlechter wiedererkannt als Gesichter der eigenen Ethnie. Um den so genannten „Fluch des Wissens“ („Curse of Knowledge Bias“) handelt es sich dann, wenn es gut informierten Personen sehr schwer fällt, sich in den Wissensstand weniger gut informierter Personen hineinzuversetzen.
Das dritte Problemfeld entsteht durch den raschen Handlungsbedarf auch in unsicheren Situationen. Jede Information wird daher in Sekundenbruchteilen beurteilt, um die Situation einschätzen zu können und den weiteren Verlauf prognostizieren zu können. Allerdings werden dabei die Ergebnisse von geplanten Aktionen oft zu optimistisch eingeschätzt und die eigene Kompetenz überschätzt. Negative Ergebnisse werden dagegen für unwahrscheinlicher gehalten, als sie in Wirklichkeit sind. Um Fehler zu vermeiden, wird gerne der Status quo bevorzugt, sofern kein Änderungszwang besteht. Lösungen, die einfach und vollständig wirken, werden stärker bevorzugt als solche, die kompliziert scheinen. Oft gibt es auch die Tendenz, Aussagen, Einschätzungen oder Informationen anderer Menschen zu viel Bedeutung beizumessen und diese auf die eigene Person zu übertragen. Dieser Bias wird „Barnum-Effekt“ genannt und geht auf den Zirkusgründer Phineas Taylor Barnum zurück, der Besitzer eines Kuriositätenkabinetts war, das „für jeden Geschmack etwas bieten sollte“. Hier neigen wir dazu, aus vagen und allgemeingültigen Aussagen die für uns relevanten Aspekte als gegebene Tatsachen anzuerkennen, auch wenn sie es nicht sind. Das geschieht z. B. bei Horoskopen, wenn allgemeine Aussagen durch die Übertragung auf die eigene Person validiert werden. Eine häufige Verzerrung findet sich auch im sogenannte „Dunning-Kruger-Effekt“, der 1999 von den US-amerikanischen Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger entdeckt wurde und besagt, dass weniger kompetente Personen oft das eigene Wissen zu hoch einschätzen und das von (kompetenteren) Menschen stark unterschätzen Es scheint, dass Unwissenheit bei einer Sache meist zu mehr Selbstvertrauen führt als tatsächliches Wissen und wirkliche Kompetenz.
Das vierte Problemfeld umfasst die Frage: „Was sollen wir uns merken?“ und bezieht sich auf die vielen Informationen, die oft nicht zu bewältigen sind. Die Reaktion darauf ist, dass man versucht, das zu speichern, von dem man glaubt, dass es hilfreich ist. Generalisierungen werden gebildet, aber Details ignoriert. Die Folgen sind unbewusste Assoziationen, Stereotype und das Herausbilden von Vorurteilen. Da aber Ereignisse und Situationen schwer generalisierbar sind, werden ein paar Details herausgegriffen, die das Ganze repräsentieren sollen. Erinnerungen werden je nach Art des Erlebnisses abgespeichert, aber der Kontext hat oft nichts mit der ursprünglichen Information zu tun („Google-Effekt“). Zu einem interessanten Verzerrungs-Phänomen kommt es auch beim so genannten „Ikea-Effekt“, der auf eine Untersuchung der amerikanischen Wissenschafter Michael Norton und Daniel Mochon zurückgeht. In einem Experiment wurden die TeilnehmerInnen gebeten, Origami-Figuren herzustellen. Im Anschluss hatten sie anzugeben, wie viel sie bereit waren, für die eigenen Arbeiten und die der anderen Teilnehmenden zu zahlen. Das Ergebnis war eindeutig – alle wollten für ihre eigenen Figuren besonders viel zahlen und fanden darüber hinaus ihre Arbeiten genau so wertvoll wie jene von richtigen Origami-KünstlerInnen. Die Erklärung dafür ist, dass wir das, was uns Mühe macht und was wir selbst herstellen, besonders gerne haben und als gut erachten. Allerdings gilt der Ikea-Effekt nicht immer, denn in Experimenten zeigte sich, dass die Arbeit nur dann höher eingeschätzt wurde, wenn sie von Erfolg gekrönt war.
Mögliche Maßnahmen gegen lernhinderliche kognitive Verzerrungen
Abschließend muss gesagt werden, dass mentale Abkürzungen nicht immer schlecht sind, denn sie helfen uns in vielen Lebenssituationen rasch zu handeln und unkomplizierte Wege zu gehen. Aber wenn es darum geht, dass erwachsene Menschen sich ernsthaft um Lernprozesse und Lernerkenntnisse bemühen, sind die kognitiven Verzerrungen ein Hindernis. Um sie zu minimieren ist eine kontinuierliche Selbstreflexion und die Fähigkeit, Fehler zu erkennen, eine gute Grundlage. Auch Lerncoaching und „critical reading“ mit Hilfe anderer Personen können helfen, Lernhindernisse, die durch kognitive Verzerrungen entstehen, zu erkennen und abzubauen. //
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