Was werden wir gewesen sein, fragt Roger Willemsen in seinem Vermächtnis? Der Journalist ist 2016 verstorben. Weggefährten haben auf Basis eines noch nicht abgeschlossenen Buchmanuskripts und einer „Zukunftsrede“ – vorgetragen von Willemsen bei Erhalt der Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft – vorliegende Texte komprimiert und veröffentlicht. Die Lektüre lädt zur Besinnung ein, der schmale Umfang erlaubt innezuhalten und weiter zu denken, er treibt nicht an, ein großes Pensum an Seiten zu bewältigen.
Persönlichkeitsbildung – um mit einem naheliegenden Sachbezug zu beginnen – wird, so der Autor, von der Logik entfremdeter Arbeit vereinnahmt. Ständig erreichbar, wird über uns verfügt, unsere Gesundheitsdaten und Lebensführung legen wir offen, erleiden „Freizeitstress“ und tragen die Brille der Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Der Wunsch nach Effizienz regiert, „[…] alles wird Wissenschaft, wird Kompetenz, wird Arbeit. Etwas zu erarbeiten ist die Erholung.“ (S. 50). Aus der Zukunft betrachtet, urteilt Willemsen, schützt und das Medium Arbeit davor Existenzfragen zu stellen, Bedrohungen zu sichten. Entwürdigt durch „System“, „Ordnung“, „Marktsituation“, „Wettbewerbsfähigkeit“ haben wir einen Blick für die Zukunft verloren – wir pflegen „Realismus“ und „politische Vernunft“, unsere Kapitulation nennen wir „Mit-der-Zeit-Gehen“.
Diese Gedanken gegen Ende des Textes leiten zu seinem Anfang zurück. Menschliche Existenz auf der Erde führt in Katastrophen und Krisen. Wissenschaft, Zeitungen, Bücher, Fotos, Filme, Reportagen „[…] sind geradezu kontaminiert von den Bildern des Unheils“. Sie lehren uns, sagt Willemsen (S. 10): „Nichtwissen im Wissen zu behaupten; nicht gewusst zu haben werden, während man doch wusste.“
Willemsen schreibt von einer neuen Qualität der Flüchtigkeit. Beschleunigung, durch Bilderwelten auf Displays und Fernsehschirmen vermittelte Realitäten erschweren es, sich des unmittelbaren Daseins bewusst zu werden, „[…] in der Gegenwart anzukommen, die einmal die unsere gewesen sein wird.“ (S. 31).
Flüchtigkeit, Rasanz, Ruhelosigkeit kennzeichnen die Gegenwart. Ausgeliefert einem ständigen Kampf um unsere Aufmerksamkeit – dauernd strömen Informationen, Kaufangebote, Bilder auf uns ein, vollziehen wir ständig Parallelhandlungen und mutieren zu „Second-Screen-Menschen“. Privatsphäre wurde aufgegeben, preisgegeben wie ein Roman in Fortsetzungen.
„Wir waren uns selbst genug“, urteilt der Autor, wir machten uns transparent – verfügbar. So schließt sich der von Roger Willemsen entworfene Kreis.
Wie lässt uns Willemsen zurück? Sollen wir anders denken, anders handeln, uns anders verhalten? Er gibt keine Vorschläge, Direktiven, Anleitungen. Die Lektüre entmutigt nicht, sie inspiriert. Will ich einmal so gewesen sein, wie ich jetzt bin und geworden bin? Jederzeit könnten sich Erwachsene diese Frage stellen, nicht nur in Krisen, aber dann sicherlich erst recht. Gerade dann gilt es wohl zu erschließen, welche Vergangenheit zu unserer gegenwärtigen Situation geführt hat. Aber vielleicht dient es vorbeugend, wenn in Kursen oder Veranstaltungen der Erwachsenenbildung solchen Fragen ein Forum gegeben wird. Vielleicht entsteht daraus ein Beitrag, wie es modernistisch heißt, zur Lebenskompetenz, oder, altmodisch formuliert, zur Selbstreflexion im Sinne eines bereits in der Antike zum Ausdruck gebrachten „Erkenne dich selbst“. //
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