Über das Lernen

Liebe Leserinnen und Leser, gerne möchte ich Ihnen eingangs mitteilen, dass ich mit diesem Artikel zwei Ansätze verfolge, ist der Kenntnisstand der Psychologie zu diesem Themenkomplex doch ein sehr reichhaltiger. Die erste Strategie ist, dass ich den weiten Begriff des Lernens, wie er in der psychologischen Grundlagenliteratur verstanden wird, im ersten Abschnitt darstellen möchte. Natürlich werde ich ebenfalls von Lernen, der Wissensaneignung, wie wir sie im Alltag verstehen, sprechen. Das erfolgt dann im zweiten Teil. Der zweite Ansatz ist, dass ich versuchen werde, zwei Disziplinen der Psychologie, nämlich die Lern- und die Gedächtnisforschung, so zu verknüpfen, dass sich schlussendlich ein grundlegendes Verständnis von Lernmechanismen ergibt.

Definition

Beginnen wir mit etwas zugegebenermaßen sehr Abstrakten: einer psychologischen Definition des Lernens. Haben Sie keine Sorge, ich werden die Definition im Anschluss sogleich erläutern. „Lernen ist eine erfahrungsbedingte, dauerhafte, aber modifizierbare Anpassung von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Denkprozessen, Gefühlen, Motivationen oder Verhaltensweisen an Lebensbedingungen“. (Maderthaner: 2017, 165). Ja, Lernen wird in der Psychologie als zentrale Anpassungsleistung gegenüber der Umwelt verstanden. Es ist ein wichtiges Instrument der Lebensbewältigung, wenn es darum geht, sich an verändernde Umweltbedingungen anzupassen.

Lernen als Anpassung

Überlegen Sie: Die Chancen eines Organismus zu überleben sind ungleich höher, wenn er sich entsprechend der Anforderungen der Umwelt flexibel verhalten kann. Psychologinnen würden sagen, dass ein Organismus durch Lernen ein ausdifferenzierteres Anpassungsrepertoire zur Verfügung stehen hat.

Wenn Sie sich jetzt dieselbe Situation abermals vorstellen und dabei mit mir gemeinsam annehmen, dass dieser Organismus nun sogleich alle möglichen Informationen, d.h. alle Wahrnehmungen unserer fünf Sinne speichert (jedes Geräusch, jedes Abbild) dann stellt sich die Frage, ob dieses Vorgehen effizient wäre. Wird in diesem Fall die Speicherkapazität unseres Gedächtnisses gut genutzt? Sehr wahrscheinlich wird die dauerhafte Einprägung sämtlicher Umweltinformationen nicht effizient sein, die Kosten überwiegen hier den möglichen Nutzen. Vielleicht erinnern Sie sich an sogenannte Wimmelbilder Ihrer Kindheit – würden Sie es als lebensnotwendig bzw. gut angepasst empfinden, wenn Sie sich auch heute noch an jegliches Detail erinnern könnten? Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Das hat nun aber eine bedeutsame Konsequenz, nämlich, dass es ein Kriterium oder mehrere Kriterien benötigt, damit der menschliche Organismus weiß, welche Erfahrungen es wert sind, gespeichert oder gelernt zu werden.

Kommen wir also zum ersten dieser Lernkriterien. Bei höher entwickelten Lebewesen ist das erste Lernkriterium ein relativ grobes, nämlich die generelle Erregungszunahme im zentralen Nervensystem, welche durch das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem reguliert wird. (Maderthaner: 2017, 168 f.). Warum ist dieses System wichtig? Überraschende, neue oder bedeutsame Ereignisse in unserem Alltag führen zu einer Aktivierungssteigerung. Kann die Situation sodann eingeordnet werden, stellt sie sich als ungefährlich heraus, oder wird sie erfolgreich bewältigt, dann sinkt, und das wird sich die aufmerksame Leserin in diesem Moment gewiss denken, der Aktivierungspegel wieder ab. Die Zunahme und Abnahme zentralnervöser Erregung zeigen dem Organismus die Relevanz des Ereignisses sowie dessen Bewältigung an – es kommt zur Speicherung. Es ist, und das ist sehr bedeutsam, nicht die Erregungszunahme, sondern die Erregungsabnahme, die dem Organismus andeutet, dass hier ein einspeicherungswürdiges Ereignis stattgefunden hat.

Das führt mich sogleich zum nächsten Punkt: Yerkes und Dodson haben bereits im Jahr 1908 (Maderthaner: 2017, 169) beschrieben, dass sich sowohl Unter- (Hypoaktivierung) als auch Überaktivierung (Hyperaktivierung) negativ auf die kognitive Leistung auswirken. Generell ist ein mittleres Erregungsniveau optimal. Unterschiedliche Aufgaben erfordern indes verschiedene Erregungsstufen, um die größtmögliche Leistung zu erzielen. Beispielsweise erfordern schwierige oder intellektuell anstrengende Aufgaben eine geringere Erregung (um die Konzentration zu fördern), wohingegen Aufgaben, die Ausdauer erfordern, mit einer höheren Erregung (um die Motivation zu steigern) besser ausgeführt werden können. (Diamond, Campbell, Park, Halonen, & Zoladz: 2007).

Das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem ist, wie bereits zuvor beschrieben, ein grober Regulationsmechanismus. Bei Säugetieren gibt es ebenso ein zweites, differenzierteres zentralnervöses Bewertungssystem, das limbische System. Laufend werden hier Vergleiche zwischen Ist- und Sollwerten im psychischen und biologischen Bereich vorgenommen. Der Ist-Wert ist erlernt, er spiegelt die aktuellen Erwartungen im Sinne der eigenen Bedürfnisse gegenüber der aktuellen Situation wider. Diese können sowohl bewusst als auch unbewusst (implizit) entstanden sein. Kommt dieser Vergleich zu einem positiven Ergebnis, entstehen positive Gefühle, ist das Ergebnis dieses Vergleichs eine Abweichung zwischen Ist- und Sollwert, entstehen negative Gefühle. (Grawe: 2000, 289). Positive Erlebnisse sprechen vor allem die Belohnungszentren im limbischen System an, unser, wenn man so möchte, emotionales Gehirn. (Routtenberg: 1968, 51). Ein Beispiel dafür sind Aha-Erlebnisse, wenn wir Inhalte verstanden haben, aber auch andere Formen von Erfolgserlebnissen sowie die Befriedigung von Bedürfnissen, seien es biologische, wie etwa Nahrungsaufnahme und Schlaf, oder psychische Bedürfnisbefriedigung, wie Nähe (Bindung), Kontrolle und Orientierung oder Selbstwerterhöhung. Jene Belohnungszentren hemmen das zuvor genannte Aktivierungssystem, wodurch es, und das haben wir bereits als Lernen definiert, zu einer Reduktion zentralnervöser Erregung kommt. Somit stehen u.a. positive Erlebnisse, dadurch, dass sie Aktivierung reduzieren, mit Lernen in Zusammenhang.

Habituation

Die Gewöhnung gegenüber einem Umweltreiz, welcher mehrmals auftritt, ist eine weitere Form des Anpassungslernens, die in der Psychologie als Habituation bekannt ist. (Gerrig: 2015, 201). Nehmen wir etwa Johann Wolfgang von Goethe: Der unter Höhenangst leidende Dichter reiste nach Straßburg, um sich auf dem 142 Meter hohen Kirchturm seiner Angst auszusetzen. Er spürte, wie sein Angstempfinden immer stärker nachließ, bis der Anblick des Abgrunds keine starke negative Emotion mehr hervorrief. (von Goethe: 1812, 389). Goethe hatte sich einer mit Angst besetzten Situation ausgesetzt und sich gegenüber diesen Umweltreizen habituiert, das heißt, er hatte gelernt, sich an diese neue Situation zu gewöhnen. Drei Punkte sind bei der Habituation wichtig. 1. Je häufiger ein Umweltreiz auftritt, desto schneller gewöhnen wir uns daran. 2. Gleichzeitig ist die Gewöhnung zu Beginn am ausgeprägtesten und nimmt dann fortlaufend ab. (Mazur: 2004, 78). 3. Diese Lernform ist für Personen, die unter Ängsten leiden ein erfolgversprechender Ansatz in der Therapie. Indem sie sich unmittelbar mit der Angstsituation oder dem Angstreiz konfrontieren, ist eine Besserung des Leidens wahrscheinlicher. (Maderthaner: 2017, 182.).

Klassische Konditionierung

Sie werden sich an dieser Stelle vielleicht denken: Wo ist denn nun endlich dieser sabbernde Hund und Herr Pawlow, der Nobelpreisträger mit seiner Glocke? Und gewiss, mit dieser Nachfrage haben Sie vollkommen Recht. Soweit ist der Aufbau des Experiments hinlänglich bekannt. Bevor der Hund sein Futter bekommt, ertönt eine Glocke und es kommt zur Speichelsekretion des Hundes, ohne dass der Hund tatsächlich Futter vorgesetzt bekommen hat. Somit kommt es, nach mehrmaligen Durchgängen, allein aufgrund des Glockentons zum Speichelreflex des Hundes. Was für ein außergewöhnlicher Effekt! Kurzzeitig benötige ich nun Ihre gesamte Aufmerksamkeit, denn die Mechanismen des klassischen Konditionierens sind nicht trivial. Der Grundbaustein des klassischen Konditionierens besteht aus biologisch determinierten, d.h angeborenen Reflexen – Menschen haben eine Vielzahl angeborener Reflexe; man denke hier beispielsweise daran, was mit dem Händchen eines Neugeborenen passiert, wenn man einen Finger in die kleinen Handflächen legt. Genau, das Händchen schließt sich – , die durch biologisch relevante Reize der Umwelt, wie etwa den Anblick von Futter, ausgelöst werden. Der Reiz sowie das darauffolgende Reflexverhalten stehen, wenn man so möchte, in einem natürlichen Zusammenhang: Der Reiz löst das Reflexverhalten aus. Nun ist es aber so, dass dem Futter ein Glockenton vorangeht. Nach mehrmaligen Durchgängen kommt es zu einer assoziativen Verknüpfung des Tons mit dem Futter. Durch diese Verknüpfung löst der Ton allein den Speichelreflex aus. Der Ton ist zu einem Ankündigungsreiz, also einem Signal für das nachfolgende Futter geworden. Deshalb wird klassische Konditionierung auch als Signallernen bezeichnet, da bestimmte Umweltreize das nachfolgende Auftreten wichtiger bzw. lebensrelevanter Situationen signalisiert. (Gerrig: 2015, 203–205).

Für eine gelungene Kopplung zwischen Reiz und Reflexverhalten ist sowohl die sogenannte zeitliche Kontiguität, also das zeitliche Nacheinander von Ton und Futter sowie die von Robert Rescorla (1966, 383–384) erforschte Kontingenz zentral. Damit ein Organismus effizient lernt, sollte, um beim Beispiel zu bleiben, der Ton stets das Futter für den Hund vorhersagen, das heißt, der Ton kündigt jedes Mal korrekterweise das nachfolgende Auftreten des Futters an. Das ist Kontingenz. Bleibt, so höre ich Sie fragen, die gelernte Konditionierung zwischen Reiz und Reflex permanent bestehen? Nein. Verliert ein Reiz, der konditioniert wurde (Ton), seine Vorhersagekraft für den biologisch relevanten Reiz (Futter), kommt es zur sogenannten Löschung. Der Ton hat in diesem Fall seinen Anpassungswert für die Lebensbedingungen verloren. Was aber, wenn der Reiz zu einem späteren Zeitpunkt erneut relevant wird, muss die Assoziation zwischen neutralem Reiz (Ton) und dem biologisch relevanten Reiz (Futter) wieder mühsam erlernt werden? Nein. Dieses Phänomen nennt sich Ersparnis und besagt, dass es weniger Kopplungen zwischen dem neutralen Reiz und dem biologisch relevanten Reiz benötigt, um die Verknüpfung erneut zu erlernen.

Der Versuch einer Zusammenfassung: Je häufiger ein neutraler Reiz in Verbindung mit einem biologisch relevanten Reiz, welcher vorgegebenes Reflexverhalten auslöst, auftritt, desto wahrscheinlicher wird es, dass der ehemals neutrale Reiz allein den Reflex bewirkt.

Operantes Konditionieren

Kommen wir zu einem weiteren Lernmechanismus: dem operanten Konditionieren. Edward Lee Thorndike (1927, 212) beschrieb das sogenannte Gesetz des Effektes, nämlich, dass sich die Auftrittswahrscheinlichkeit eines Verhaltens durch die Konsequenzen, die auf das Verhalten folgen, verändert. Eine persönliche Erfahrung von mir: Stellen Sie sich vor, Sie stehen als Vortragende einem Publikum von etwa 20 Personen gegenüber. Da Sie interaktive Vorträge schätzen, stellen Sie dem Publikum immer wieder kurze Zwischenfragen, auf welche besonders zwei Personen wiederholt antworten. Zu welchen Personen werden Sie blicken, wenn Sie erneut eine Frage stellen. Natürlich, genau zu eben jenen Personen, die schon zuvor wiederholt Ihre Fragen beantwortet haben. Die Beantwortung der Frage (belohnende Konsequenz) führt dazu, dass Sie vermehrt zu diesen Personen blicken werden (Verstärkung der Verhaltenstendenz).

Versuchen wir nun, das Konkrete dieses Beispiels zu etwas Abstrakten zu verallgemeinern. Belohnende Konsequenzen unseres Verhaltens verstärken die Auftrittswahrscheinlichkeit, das bedeutet, dass wir dieses Verhalten in Zukunft häufiger zeigen werden. Deshalb wird hier in der Psychologie auch von Verstärkung gesprochen. Folgen negative Konsequenzen auf unser Verhalten, wird sich in Zukunft die Auftrittswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens reduzieren. In der Psychologie ist hierfür die Bezeichnung Bestrafung üblich. Der entscheidende Unterschied zwischen dem zuvor besprochenen klassischen Konditionieren und dem hier besprochenen operanten Konditionieren ist, dass das klassische Konditionieren auf bereits vorhandenes Reflexverhalten aufbaut, während sich beim operanten Konditionieren die Auftrittswahrscheinlichkeit jedes möglichen Verhaltens durch die darauf folgenden Konsequenzen verändern kann. Also hier positive oder negative Konsequenzen, dort die Assoziation von Reizen und Reflexen. (Gerrig: 2017, 217).

Zusätzlich existieren sogenannte diskriminative Hinweisreize, die bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen oder dieselben hemmen. Dies lässt sich gut am Beispiel von Lehrerinnen festmachen. Manch eine Lehrerin ist insofern ein diskriminativer Hinweisreiz, als dass sie undiszipliniertes Verhalten bei Kindern auslöst, während andere Lehrerinnen den gegenteiligen Effekt haben und dazu führen, dass undiszipliniertes Verhalten gehemmt wird.

Sie haben es schon geahnt, man kann zwischen einzelnen Verstärkern unterscheiden. Es gibt primäre Verstärker, die der unmittelbaren Triebbefriedigung des Menschen dienen, wie etwa Trinken, Essen oder sexuelle Aktivitäten. Die zweite Kategorie besteht aus erlernten Verstärkern, da sie durch Kopplung mit den primären Verstärkern als angenehm erlebt werden. Hierbei handelt es sich etwa um Geld, ein Lächeln oder Statussymbole.

Um das Thema der operanten Konditionierung abzuschließen: Liebe LeserInnen, es freut mich sehr, wenn Sie bis zu diesem Punkt meinen Ausführungen gefolgt sind.

Imitationslernen – Modelllernen

Kommen wir zur letzten allgemeinen Lernform, die die generelle Anpassungsleistung eines Menschen gegenüber seiner Umwelt erhöht. Es ist das sogenannte Modelllernen nach Albert Bandura (1965, 589). Da diese Art des Lernens besonders für Kinder eine der wichtigsten Lernformen ist, sind auch die Versuchspersonen des berühmtesten Experiments dieses Forschungsfelds Kinder. Ihnen wurde ein Film gezeigt, in welchem sich ein Erwachsener, in diesem Experiment die Modellperson, aggressiv gegenüber einer Puppe verhielt. Sodann wurde der Erwachsene für sein Verhalten entweder belohnt, bestraft oder es kam zu keiner nennenswerten Konsequenz. Darauf folgte der aktive und relevante Teil des Experiments: Die Kinder wurden in einen Raum geführt, in welchem sich mehrere Spielzeuge und auch eben jene Puppe befanden. Sie wurden durch einen Einwegspiegel beim Spielen beobachtet. Und tatsächlich, die kleinen Versuchspersonen ahmten das zuvor gesehene Verhalten an der Puppe nach. Die Intensität der Aggressivität war dabei abhängig vom Geschlecht – die Jungen verhielten sich insgesamt aggressiver – aber auch davon, welche Konsequenz die erwachsene Modellperson zuvor erfahren hatte. Wurde der Erwachsene für sein Verhalten belohnt, dann zeigten die Kinder mehr Aggression gegenüber der Puppe. Als den Kindern danach eine Belohnung für das aggressive Verhalten in Aussicht gestellt wurde, verhielten sich alle Kinder aggressiv. Alle hatten, und das besitzt die höchste Relevanz, das aggressive Verhalten erlernt, unabhängig davon, welche Konsequenzen der Erwachsene im Video erlebt hatte. Das bedeutet, dass es lediglich günstiger Situationen bedarf, damit das Kind das durch Beobachtung gelernte Verhalten ausagieren kann. Zentral ist somit die Erkenntnis, dass ein Unterschied zwischen dem Erwerb und der Ausführung des beobachteten Verhaltens besteht. Natürlich ist dieser Lernmechanismus noch weiter zu differenzieren. Gefördert wird die Imitation der Verhaltensweisen besonders dann, wenn die Modellperson als (1) positiv und beliebt, (2) mächtig, (3) dominant, (4) seriös und (5) ähnlich gegenüber dem Lernenden eingestuft wird sowie, wenn (6) deren Verhalten belohnt wird. (Mischel: 1971; Bandura: 1977, beide zitiert nach Maderthaner: 2017, 200).

Um es kurz zu machen: Anhand von Modellpersonen, besonders wenn diese positive Kriterien erfüllen, lernen wir Verhaltensweisen durch Beobachtung, die wir zu einem späteren Zeitpunkt nachahmen können.

Biologische Grundlagen

Eine notwendige Voraussetzung für sämtliche bisher erwähnte Lernmechanismen habe ich Ihnen aber bisher verschwiegen und das Versäumte möchte ich nun nachholen. Damit die, in der anfänglichen Lern-Definition erwähnte Anpassung an Lebensbedingungen von Erfolg gekrönt sein kann, benötigt es eine zentrale Grundlage: einen Speicher. Stellen Sie sich einen Organismus vor, der keine Möglichkeiten hat, Informationen abzuspeichern. Dieser Organismus hat in einer komplexen und gefährlichen Umgebung geringe Chancen zu überleben. Das heißt, es benötigt einen Speicher, in welchem sämtliche Informationen eingeprägt werden können. Dieser Speicher ist das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) des Menschen. (Maderthaner: 2017, 201).

Unser Gehirn hat vermutlich 25 Milliarden Nervenzellen. (Birbaumer & Schmidt: 1991, 7). Eine Nervenzelle kann eine Information, einen sogenannten Input, an eine nachgelagerte Nervenzelle elektrochemisch vermitteln. Dies geschieht im synaptischen Spalt, in welchem die Botschaft via Neurotransmitter weitergegeben wird. Einige der Neurotransmitter sind Ihnen wahrscheinlich bekannt, beispielsweise Adrenalin, Dopamin oder Serotonin. Diese Kontakte zwischen den Nervenzellen sind als Folge von Lernprozessen und Anpassungsleistungen gegenüber der Umwelt unterschiedlich stark ausgeprägt. Was geschieht aber, wenn zwei Nervenzellen immer wieder gleichzeitig erregt werden? Diese beiden Nervenzellen verbinden sich besonders stark miteinander. Die Weitergabe des Impulses erfordert sodann einen geringeren Aufwand (Hebb’sche Lernregel; Hebb: 1949, 62) – eine wichtige Grundlage des Lernens.

Komplexe Anpassungen, wie sie beim Lernen vermutet werden, stehen in enger Beziehung mit drei Gehirnarealen (Birbaumer & Schmidt: 2006, 593–638): dem Hirnstamm, dem limbischen System und dem Großhirn. Der Hippocampus, ein Teil des limbischen Systems, bildet die Voraussetzung für die Konsolidierung, also für das dauerhafte Einprägen von Erlebnissen und Wissensinhalten. Neurologische Befunde zeigen dabei, dass viele Informationen und Fertigkeiten nicht an einer einzelnen Stelle des Großhirns lokalisiert sind, sondern Einprägungen an verschiedenen Stellen des Neokortex gespeichert werden.

Gedächtnis

Bauen wir nun auf dieser biologischen Grundlage auf und befassen uns damit, welche Erkenntnisse die Gedächtnisforschung für uns bereithält. Warum sollten wir uns überhaupt Informationen merken? Ich habe zuvor bereits ausgeführt, dass dies mit einer erhöhten Anpassungsleistung gegenüber der Umwelt einhergeht. Ich möchte diesen Gedanken noch einmal aufgreifen und weiter ausführen. Das Einprägen von Inhalten ermöglicht es, ein inneres Abbild der äußeren Realität zu entwickeln. Noch einmal, denn dieser Satz ist wichtig: Ein organismusinternes Abbild der externen Realität wird gebildet. Dadurch wird die Wirklichkeit besser vorhersag- und kontrollierbar, indem das bestmögliche Abbild der Realität, auf Basis der Erfahrung, geformt wird (Spitzer: 1996, 58) – ein immenser Vorteil. Wie bildet sich die beste Abbildung der Umwelt? Das erinnert stark an die Schätzung von Parametern in der Statistik, wie etwa dem Mittelwert (Durchschnitt); es geht darum, stabile Erfahrungen über die Wirklichkeit als Basis für diese Abbildung zu wählen. (McClelland, McNaughton & O’Reilly: 1995, 436).

Jedoch ist unsere Speicherkapazität begrenzt. Der Großteil der Informationen, die wir potenziell durch unsere Sinne wahrzunehmen vermögen, zerfällt nach Sekunden, etwa nach 0,5 Sekunden bei visuellen Reizen (Sperling: 1960, 26), da sie in der jeweiligen Situation nicht relevant sind, unsere Informationsaufnahme erfolgt nämlich bedürfnisbezogen. (Grawe: 2000, 226). Die Informationen gelangen über das sensorische Gedächtnis, dem Speicher der Sinnesorgane, in das Arbeitsgedächtnis, das ehemals auch als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet wurde. Wird die Information hier länger aufrechterhalten, indem wir etwa unsere Aufmerksamkeit auf die Information richten, dann besteht die Chance, dass die Information langfristig gespeichert wird, nämlich, und das kennen Sie gewiss, im Langzeitgedächtnis. (Maderthaner: 2017, 243).

Lernen und Vergessen

Bevor wir zu den eben erwähnten Prozessen kommen, möchte ich gerne ein generelles Bild von Lern- und Vergessensprozessen skizzieren. Wenn Sie sich an die Gewöhnung zurückerinnern, dann werden Sie auf das Nachfolgende gut vorbereitet sein. Oftmalige Wiederholungen ähnlicher Erfahrungen lösen rasche Lernprozesse aus. Psychologen nennen das auch das Potenzgesetz des Lernens. (Newell & Rosenbloom: 1981, 17). Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass häufige Erfahrungen eine große Lebensrelevanz besitzen. Das bedeutet auch, dass neue Erfahrungen besonders schnell eingeprägt werden. (Pirolli & Anderson: 1985, 136). Was denken Sie, wie es sich mit dem Vergessen verhält? Ja, wer vom Lernen spricht, kann vom Vergessen nicht schweigen. Es verhält sich analog, d.h. wir vergessen anfangs rasch und dann immer langsamer, wobei es auch hier zu einem Ersparnis-Phänomen kommt. Das bedeutet, selbst wenn wir sinnlose Inhalte auswendig lernen, können diese zwar inhaltlich in ihrer Gesamtheit vergessen worden sein, aber: Lernen wir diese sinnlosen Inhalte erneut, benötigen wir weniger Lern-Durchgänge, als bei der ursprünglichen Aneignung. (Ebbinghaus: 1885, 103 f.). Besonders dann kommt es zum Vergessen, zur Löschung von Informationen, wenn diese eine geringe Nützlichkeit für uns haben. Diese Erfahrungen wurden beim Einprägen nicht ausreichend durch Aktivierung oder begleitende Emotionen gestützt. Ihr Durchschnittswert ist, um in der Sprache der inneren Abbildung der Realität zu bleiben, unnütz geworden. Das zentrale Nervensystem, als biologischer Speicher, bringt nämlich die Tendenz mit sich, einen Großteil dessen zu löschen, was nicht kontinuierlich für unser Leben relevant ist. (Anderson: 2000, 233). Ursachen für Vergessensprozesse sind etwa der natürliche Verfall, also die Abnahme der Verbindungsstärke zwischen Nervenzellen sowie Interferenzen. Stellen Sie sich vor, wie viele Informationen wir gleichzeitig oder auch nacheinander abspeichern könnten und wie sehr sich diese Informationen überlappen oder auch widersprechen können. In der Psychologie wird dann davon gesprochen, dass diese Inhalte miteinander interferieren. Dieser Prozess trägt ebenfalls zum Vergessen bei. Wie kann man sich dem entziehen, höre ich sie fragen? Hier ist es natürlich sinnvoll, nach kurzen Lerneinheiten Pausen einzulegen, sodass sich die neuronalen Verbindungen in Ruhe bilden, konsolidieren, können. (Rohracher, 1968, zit. nach: Maderthaner: 2017, 212).

Langzeitgedächtnis

Kommen wir nun zu dem Abschnitt, welcher meines Erachtens am ausgeprägtesten dem entspricht, was wir im Alltag unter „Lernen“ verstehen, nämlich die Aufnahme, die Festigung sowie den Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Hier sind sämtliche persönliche Erlebnisse vorhanden, etwa der erste Schultag, große Erfolge sowie persönliche Verletzungen. Diese Inhalte können ebenso mit relativ geringem Aufwand reproduziert werden, wie beruflich relevante Fertigkeiten, Melodien und Gedichte, Wortbedeutungen, Inhalte der klassischen Allgemeinbildung, sogar chemische, physikalische und mathematische Gesetzmäßigkeiten, wie a2+b2=c2 haben hier ihren Platz. Natürlich ist das Langzeitgedächtnis, das dürfte mittlerweile aufgrund der beschriebenen Prozesshaftigkeit des neuronalen Geschehens einleuchtend sein, nicht ein definierter Ort im Gehirn. Die aktuelle Forschung zeigt, dass ganze Neuronennetzwerke im Großhirn, Kleinhirn und Zwischenhirn beteiligt sind. Eingeprägte Inhalte sind in ihrer neuronalen Repräsentation stark vernetzt und beeinflussen sich gegenseitig. (Madethaner: 2017, 219 f.). Generell ist das Gedächtnis nicht als Computer vorzustellen, auf welchem Daten gespeichert und zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder abgerufen werden. Vielmehr ist es ein Informationsverarbeitungsprozess, bei dem es darum geht, welche Informationen wahrgenommen, gefestigt und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgerufen werden können. (Gerrig: 2015, 238).

Langzeitgedächtnis – Aufnahme, Festigung, Abruf

Kommen wir zu des Pudels Kern: Der (1) Aufnahme, (2) Festigung und dem (3) Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Widmen wir uns zuerst der Aufnahme von Informationen und den Effekten, die diesen Prozess begünstigen oder anders gesagt, den Effekten, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir uns Inhalte merken.

Die (1.1) Aktivierung begegnet uns auch hier. Folgt auf Stimulation (erhöhtes Aktivierungsniveau) Entspannung, vielleicht sogar Schlaf, führt dies zu zentralnervöser Erregungsabnahme und somit zu Konsolidierung. (Maderthaner: 2017, 239). Eine günstige Situation, um die Informationen aufzunehmen.

Eine weitere Hilfe bei der Einprägung ist die (1.2) Einmaligkeit bzw. Besonderheit der Informationen („Distinctiveness-Effekt“). Da die Inhalte markant sind, können sie nicht unmittelbar mit anderen Inhalten verwechselt werden, es kommt also zu keiner Interferenz bei der Aneignung. Wir können diesen Effekt, wenn es uns beliebt, aktiv steigern: Indem wir jene markanten Eigenschaften als Merkhilfen selbst erarbeiten, wird die Behaltensleistung verbessert. (Mäantylä: 1986, 66).

Der erste Eindruck zählt. Oder doch der Letzte? Die Psychologie spricht hier von sogenannten (1.3) Positionseffekten, also der Reihenfolge, in welcher Informationen aufgenommen werden. Und tatsächlich, sowohl Inhalte, die zuerst ins Bewusstsein gelangen, werden besser behalten (Primacy-Effekt), also auch diejenigen, die sich am Ende eines Lerneinheit befinden (Recency-Effekt). Erklärt wird das damit, dass diese Informationen besser unterscheidbar sind, es kommt hier zu weniger Interferenzen. (Gerrig: 2015, 254).

Mit dem nächsten Mechanismus sind wir gut vertraut, er wird als (1.4) Gliederungseffekt bezeichnet. Er besagt, dass Inhalte dann besser gespeichert werden und dadurch leichter abrufbar sind, wenn wir diese gliedern, also begrifflich oder assoziativ ordnen bzw. kategorisieren. Deswegen behalten wir Geschichten, Reime und bildliche Vorstellungen von Inhalten besser. (Bevan & Steger: 1971, 597). Überlegen Sie: Womöglich ist das einer der Gründe, warum Epen wie die Odyssee in Versform verfasst sind, da sie anfänglich nur mündlich weitergegeben wurden und der Hexameter, das Versmaß der Odyssee, dem Material eine Ordnung und somit eine zusätzliche Merkstütze gab.

Auch der nächste Effekt ist Ihnen bekannt. Der (1.5) Elaborationseffekt entfaltet seine Wirkung dann, wenn wir über die anzueignenden Inhalte reflektieren und versuchen, sie mit bereits vorhandenem Wissen zu verknüpfen. Die Wahrscheinlichkeit der Aneignung erhöht sich, je lebendiger die Vorstellungen sind. (Craik & Lockhart: 1972, 671). Eine Sonderform ist hier der persönliche Bezug. Wenn Sie es schaffen, Verbindungen von neuen Inhalten zu Ihrer eigenen Person herzustellen, besteht eine große Chance auf Langzeitspeicherung. (Rogers, Kuiper & Kirker: 1977, 677). Vielleicht können Sie nun erahnen, weshalb ich Sie in diesem Artikel aktiv anspreche. Ich hoffe, ich vermochte es, einen Bezug zu Ihrem eigenen Erleben und Ihren eigenen Erfahrungen herzustellen.

Haben wir nun über die (1) Aufnahme von Informationen gesprochen, möchte ich folglich zur (2) Festigung derselben übergehen. Sind neue Inhalte in unser biologisches Speichersystem gelangt, werden diese in den meisten Fällen weiterverarbeitet und neu strukturiert. Bereits Heinrich von Kleist (1878, 3) schrieb einen Aufsatz „Ueber die allmähliche Verfestigung der Gedanken beim Reden“ – je häufiger wir etwas (2.1) erzählen, desto stärker prägen sich diese Inhalte ein. Ebenso ist es hilfreich, wenn (2.2) Sprachliches in Bilder übergeführt wird, (2.3) logische Verbindungen hergestellt und (2.4) Widersprüche geglättet werden. (Maderthaner: 2017, 232 f.). Die beiden letzten Punkte harmonieren sehr gut mit dem Vergessenseffekt. Sie erinnern sich: Da unnütze Einprägungen mit der Zeit verfallen, bleibt ein kohärentes Bild der Informationen zurück. Natürlich behalten wir Inhalte besonders gut, wenn wir diese oftmals (2.5) wiederholen, der größte Anteil unseres Wissens wird durch Wiederholungen erhalten. Je abstrakter der Lernstoff ist, desto mehr Wiederholungen sind notwendig. (Maderthaner: 2017, 240). Ferner ist massiertes Lernen, d. h. die Aneignung großer Informationsmengen innerhalb kurzer Zeit (z.B. an einem einzelnen Tag), dem verteilten Lernen, also dem mehrmaligen Wiederholen von Inhalten (z.B. über vier Tage) sogar überlegen – jedoch nur für einige Stunden. Beim massierten Lernen kommt es nach diesen Stunden zu einem massiven Abfall und bereits nach einem Tag ist die Behaltensleistung des verteilten Lernens bedeutend besser. Dieser Unterschied wird im Verlauf einer Woche sogar noch größer. (Keppel, 1964, 91).

Kommen wir nun zum letzten Punkt, dem (3) Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Der (3.1) Abruf erfolgt besser, wenn die Merkmale der Situation sowie die Stimmung denen ähnlich sind, die Sie in der Situation der Informationsaufnahme erlebt haben. (Gerrig: 2015, 256). Handelt es sich hier womöglich um die bereits zuvor beschriebenen Hinweisreize? Bei dieser Frage taucht immer ein großartiges, psycholo