Carina Altreiter/Jörg Flecker/Ulrike Papouschek/Saskja Schindler/Annika Schönauer: Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gesellschaft.

Carina Altreiter/Jörg Flecker/Ulrike Papouschek/Saskja Schindler/Annika Schönauer: Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gesellschaft.
Wien: Promedia 2019, 200 Seiten.

Die Bezeichnungen „gespaltene“ oder „polarisierte Gesellschaft“ gehören zum unreflektierten Sprachgebrauch. Sie sind im letzten Dezennium auch in und für Österreich üblich geworden, um die soziale Lage zu beschreiben.

Mit dem Buch will die soziologische AutorInnengruppe verallgemeinernden Zuordnungen eine wissenschaftlich fundierte Sichtweise entgegensetzen. Ja, es gibt Spaltungslinien, fassen sie ihre Untersuchung zusammen, jedoch weniger polarisiert, sondern in vielfältiger Weise.

Keine starren, sozialen Blöcke diagnostizieren die AutorInnen, sondern Menschen – mit unterschiedlichen Zielen, Erfahrungen und Standpunkten –, die für unterschiedliche politische Programme ansprechbar sind. Da Menschen widersprechende Orientierungen in sich tragen, bieten sich, so der begründete Optimismus, Möglichkeiten für Veränderung und Mobilisierung.

Den Begriff der Solidarität, der die Beziehungen zwischen Ich und Wir ausdrückt, fungiert als Rahmen. Er umspannt das Verhältnis in der Familie und zu Nahestehenden, den „Unsrigen“, bis zu globalen Beziehungen, zur Menschheit. Die AutorInnen erkennen „Solidaritätskonfigurationen“, die sich in verschiedenen Haltungen und Ansichten äußern.

Die Aussagen des Buches basieren auf Interviews, die die SoziologInnengruppe 2018 mit 48 ÖsterreicherInnen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund geführt hatten. Die Gespräche zielten auf sozialen Zusammenhalt, Gerechtigkeit und politische Entwicklungen, auf persönliche Erfahrungen während des Aufwachsens und des Bildungsweges sowie auf Arbeitsbedingungen und Lebenssituationen.

Aufgrund der Analyse der Interviews entwerfen die AutorInnen sieben Idealtypen: „Füreinander einstehen“, „Sich für andere einsetzen“, „Fördern und Fordern“, „Leistung muss belohnt werden“, „Die moralische Ordnung erhalten“, „Mehr für die Unsrigen tun“, „Unter sich bleiben“.

Mit Auszügen aus den Interviews werden die GesprächspartnerInnen diesen Idealtypen zugeordnet. Die Lektüre bringt einen hohen Wiedererkennungswert. Viele der Aussagen klingen nicht unbekannt, sondern reihen sich in geläufige, in Berufskontakten oder in politischen Diskussionen schon gehörte Sprachmuster ein. Durch die Zuordnung zu einzelnen Personen gelingt es den AutorInnen, eine zentrale Einsicht hervorzuheben: Es gibt Polarisierungen und widersprüchliche Solidaritäten. Doch stehen sich nicht „Lager“ oder „Blöcke“ einander gegenüber, sondern die Bruchlinien tragen die einzelnen Menschen mit und in sich.

Besonders zwei Felder der Solidaritätsvorstellungen traten in den Vordergrund:

1. Die Haltung gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen.

2. Die Haltung gegenüber dem Sozialstaat als Institutionalisierung von Solidarität.

Die Auswertung der Interviews lässt die AutorInnen von einem Kontinuum – nicht von einer Dualität – bezüglich Solidarität sprechen. Sie bevorzugen die Bezeichnung „Solidaritätskonfigurationen“. Aufgrund der vielfältigen, widersprüchlichen und ambivalenten Spaltungslinien schöpfen die SoziologInnen Hoffnung für die Chancen auf positiven Einfluss bezüglich Aufklärung und humaner Entwicklung.

Die im Buch wiedergegebenen Gesprächsfelder stellen Menschen mit ihren Überzeugungen und in ihren Widersprüchen vor. Sie schildern Haltungen und Einstellungen, wie sie in der Praxis der Erwachsenenbildung auftreten und wie sie die Realität in der Bildungsarbeit beeinflussen. Deshalb erscheint das Buch für die Professionalisierung in der Weiterbildung sehr geeignet.

Der für die praktische Bildungstätigkeit in der Erwachsenenbildung geläufige Slogan „Die Menschen dort abholen, wo sie stehen“ könnte mit Hilfe der Erkenntnisse dieses Buches dynamisiert werden:

– die Menschen dort begleiten, wo sie sich bewegen;

– mit den Menschen das besprechen, was sie berührt;

– soziale Themen in konventionelle Lern- und Bildungsangebote integrieren, um Gelegenheiten zu schaffen, sich mit widersprüchlichen, das gemeinsame Miteinander betreffenden Ansichten zu beschäftigen. //

Lenz, Werner (2020): Carina Altreiter/Jörg Flecker/Ulrike Papouschek/Saskja Schindler/Annika Schönauer: Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gesellschaft. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Sommer 2020, Heft 270/71. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

Kommentare

Neuen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Zurück nach oben