Die „Citizen Science“ will die Bürger*innen-beteiligung in Forschungsprojekten stärken.1 Für ihre Programme werden die „Geschichtswerkstätten“, die eine Form sein können, die Geschichte aus einer Perspektive von unten zu bearbeiten, wieder interessant. Anfang der 1980er-Jahre bildeten sich lebensgeschichtliche Gesprächskreise und Geschichtswerkstätten an Wiener Volkshochschulen, die ähnliche Ziele verfolgten wie der Ansatz der Citizen Science heute, jedoch waren die damaligen Projekte von einem anderen Anspruch getragen. Aus einem emanzipatorischen Interesse an den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Erwachsenenbildung brachten die Akteur-innen und Akteure einige gesellschaftliche Anliegen ein. Darunter war auch die Forderung nach einer Demokratisierung der Geschichtswissenschaft. Seit den 1990er-Jahren wird jedoch die Demokratie zunehmend in Frage gestellt, demgegenüber hatten die Geschichtswerkstätten kein rein formal-demokratisches Geschichtsverständnis, sondern sie positionierten sich gegen gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen, die für viele Großteils in verkehrter Richtung verliefen.
Mein Ausgangspunkt ist ein anderer, eher fachlicher: Ende der 1990er-Jahre erwähnte der Sozialhistoriker Michael Mitterauer die „Geschichtswerkstätten“ beiläufig in seiner Vorlesung zur Einführung in das Studium der Geschichte. Das die Einführungsvorlesung an der Universität Wien begleitende, im ersten Semester nicht ganz einfach zu lesende Einführungswerk des Neuzeithistorikers Winfried Schulze bespricht unter anderem die Funktion der Geschichte in einer demokratischen Gesellschaft.2 Diverse neuere Zugänge wurden in dieser „Einführung“ als Bereicherung der Geschichtswissenschaft knapp erläutert. In seinen Schlussabsätzen bricht Winfried Schulze eine Lanze im Sinne des Toleranzgedankens in der Geschichte und ihrer Bearbeitung, der aus Wertschätzung der vielfältigen Möglichkeiten ihrer Interpretation zu begründen sei.3
Popularisierung der Geschichtswissenschaft durch ihre Einführungsliteratur
Die Geschichtspropädeutik vermittelt Studierenden und anderen Interessierten einen ersten Eindruck davon, wie historisches Wissen entstehen kann. Diese Einführungen in das Fach und seine Arbeitsweisen blieben in Grundzügen gleich, nur haben sich die Fachinhalte der Geschichte verändert. Sie spiegeln fachinterne Kontroversen wider, erreichen aber auch Personen, die fern von diesen Fachkreisen stehen. Die Einführungsliteratur ist ein beschränktes Mittel zur Popularisierung der Geschichtswissenschaft.
- Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts, während der „späthistoristischen“ Phase der modernen Geschichtswissenschaft,4 die nach 1848 an österreichischen Universitäten zu einem selbständigen Fach geworden war,5 wurden Einführungsbücher für Studierende und allgemein Interessierte herausgebracht, die das geschichtliche Fachgebiet auf schlichte Weise umrissen und die historische Methode verständlich erläuterten. Lehrer vermittelten im gymnasialen Geschichtsunterricht zum Teil das methodisch hinzugewonnene historische Wissen.6 1889 erschien Ernst Bernheims „Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie“ (1889), das zum Vorbild für die spätere Geschichtspropädeutik wurde.7 Dieses Lehrbuch reagierte auch auf den seit den 1880er-Jahren schwelenden Methoden-Streit rund um Karl Lamprechts kulturgeschichtliche Positionen.8
- Ernst Bernheims kurzgefasste und populärere „Einleitung in die Geschichtswissenschaft“ (in mehreren Auflagen von 1905 bis 1926 erschienen) erörtert neben dem Wesen der Geschichtswissenschaft ihre Aufgabe. Bernheim grenzt diese Aufgabe von der kunstvollen Geschichtsdarstellung ab, verteidigt die Behandlung der singulären Vorgänge und führenden Persönlichkeiten gegenüber den positivistischen und materialistischen Geschichtsauffassungen, die die Massenvorgänge verallgemeinern würden. Er unterscheidet davon die naturwissenschaftliche Erkenntnisart, deren Gegenstand nicht die „Betätigungen der Menschen“ in ihrer „psychischen Kausalität“ sei. Aus der Beschäftigung mit den Tatsachen, die mit den großen geschichtlichen Zusammenhängen in Verbindung gesetzt würden, leitete er die Fähigkeit zur „Selbstkenntnis und Selbsterkenntnis“, zum Verständnis für das Gewordene und die „ethische Aufgabe“ ab, die Bedeutung des Ganzen für die Individuen und alle menschlichen Gemeinschaften zu veranschaulichen, wie dies etwa im Geschichtsunterricht geschehen sollte. Der Antrieb dafür könne ein ethischer, religiöser oder patriotischer sein.9
- Von den Krisenerscheinungen des „Historismus“ als prägender Richtung der modernen Geschichtswissenschaft und der Kritik an dessen Defiziten war auch die Einleitungsschrift „Über historische Entwicklung“ (1905) des Historikers und Volksbildungspioniers Ludo Hartmann beeinflusst,10 die eine historische Soziologie auf „naturalistischer Grundlage“ anbot.11 Hartmanns gruppensoziologische Betrachtung der Geschichte versucht zu bestimmen, wie die Abhängigkeitsverhältnisse, aber auch das Handeln der Menschen zu größeren Gruppenbildungen führten. Der Elsässer Historiker Aloys Meister wandte sich gegen Hartmanns Absicht, „die Tatsachen vom Standpunkt der physikalischen, d. h. der nicht-psychologischen Abhängigkeitsverhältnisse“ zu betrachten.12 Meister erachtete die Feststellung der Tatsachen als einzig sicheren Weg, die Aufgabe der Geschichtswissenschaft zu erfüllen. Auch er reagierte in seiner 20-seitigen Einleitung „Grundzüge der historischen Methode“ (1907) des mehrbändigen Handbuchs „Grundriss der Geschichtswissenschaft“ (1906) auf Karl Lamprecht. Vorsichtiger und differenzierter versuchte er die Frage nach der Bedeutung hochgestellter Persönlichkeiten in der Geschichte zu beantworten: „Bei aufsteigender Entwickelung gehören solche Individuen zu den tüchtigsten Männern einer Zeit, bei absteigender zu den sittlich verkommensten […]“.13
- In einer Art progressiven Einführungsschrift – Wikisource reiht in der Kategorie Geschichte Otto Neuraths „Empirische Soziologie“ (1931) in den Kanon der Lehrbücher zur Theorie und Methodik der Geschichtswissenschaft ein – nimmt der Soziologe Otto Neurath Bezug auf fortschrittliche Aspekte der Geschichtswissenschaft.14 Otto Neuraths Wirken ist ein frühes Beispiel für die Bemühungen um die Humanisierung bzw. die Demokratisierung des Wissens.15
Demokratisierende Aspekte des lebensgeschichtlichen Gesprächskreises in Ottakring
Dass „einfache Leute“ Anfang der 1980er-Jahre dazu angeregt wurden, sowohl individuell als auch kollektiv über ihre eigene Geschichte nachzudenken, ausführlich miteinander zu sprechen und diese auch niederzuschreiben wurde unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Von Seite der Promotor*innen und der wissenschaftlichen Begleiter wurde ihre Tätigkeit als Bestandteil einer „Geschichte von unten“ aufgefasst,16 als „Modell Ottakring“ für Biografieforschung und Altenbildung präsentiert,17 als Teil eines „Vermittlungssystems zwischen Universität und Erwachsenenbildung“ dargestellt, 18 oder als Beitrag zu einer „sozialen Bewegung“ analysiert, die ein neues Konzept für Geschichtsarbeit entwarf.19
In der Zeit der Wirtschaftskrisen der späten 1970er-Jahre und frühen 1980er-Jahre bildete sich auch in den Bereichen der Bildung, Wissenschaft und Kultur eine konstruktiv-kritische Gemengelage, in der verbindbare Interessen zusammentrafen. Einigendes Band dieser sich anbahnenden, erneuerten Kooperationsformen war die Forderung nach einer Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Volkshochschulen suchten seit Ende der 1970er-Jahre nach einer Neuorientierung für ihre Tätigkeiten (Kooperationen in der Stadtteil- und Zielgruppenarbeit) und aktualisierten ihr demokratisches Selbstverständnis, indem nicht mehr Massenbildung angestrebt wurde, sondern selbstbestimmte Subjekte den Zielvorstellungen entsprachen. Universitätsangehörige wollten mit emanzipatorischen Absichten hinaus zu den Betroffenen und internationale Einflüsse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften in die Erwachsenenbildung hineintragen. Aktivitäten von zuvor entstandenen Basisinitiativen wurden von der institutionalisierten Volksbildung aufgegriffen, Studierende und Randgruppen sollten mehr einbezogen und ein breiteres Verständnis von Bildung, Wissenschaft und Kultur formuliert werden. Aber auch die Demokratisierung von immer noch autoritär geprägten Verhältnissen wurde von den Akteur*innen als nicht abgeschlossen begriffen, Demokratie nicht in einem engeren Sinn verstanden. Ein zentraler Aspekt bestand dabei in der Aktivierung, die dazu beitragen sollte, bei sozial Benachteiligten sowohl das demokratische Bewusstsein zu stärken, als auch diese dazu zu bewegen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen und sich mehr in Bildung, Wissenschaft und Kultur zu involvieren.20 Insgesamt wurde die Bildungsvermittlung von oben in Frage gestellt, die Lebensrealität sollte in den Bildungsinhalten stärkere Berücksichtigung finden.21
Das historisch-didaktische Mittel der Einladungsblätter
Die schon in den 1970er-Jahren erhobene Forderung nach einer emanzipatorischen Erwachsenenbildung wurde konkreter. Universitätsseminare und die Volkshochschule organisierten ein Ottakringer Pilotprojekt (1981). Das Gestalten von Radio-Sendungen und Ausstellungen folgten, eine Editions- und Sammeltätigkeit von Lebensgeschichten setzte ein. An der Volkshochschule Ottakring kristallisierte sich im lebensgeschichtlichen Gesprächskreis eine neuartige Arbeitsweise aus wechselndem Besprechen der individuellen Lebensgeschichten und gemeinsamer Redaktion heraus, aus der das „Ottakringer Lesebuch“ hervorging.22
- Der lebensgeschichtliche „Gesprächskreis zwischen Jung und Alt“, der insgesamt über elf Semester von März 1983 bis Juni 1988 ging, war eine Kursreihe für Seniorinnen und Senioren im Rahmen des Programmes der Volkshochschule Ottakring. Sie war didaktisch als Kombination aus Kaffeerunden und Seminaren aufgebaut. Für diesen Zweck wurden von den Kursleiterinnen und Kursleitern Einladungsblätter erstellt und den Teilnehmer*innen vor jeder Kurseinheit übermittelt. Die „werbenden Flugblätter“,23 die viele maschinen- und handschriftlich verfasste Fragesätze enthielten, mit Fotos, Zeichnungen, wissenschaftlichen und journalistischen Textauszügen, kleineren Statistiken und einfacheren Grafikelementen versehen waren und in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Ottakring hergestellt wurden, dienten zugleich als Einladungen und Impulse für die Gesprächskreise.
Sie ähneln kommerziellem Werbematerial, aber auch dem klassischen, mit den sozialen Bewegungen um 1968 wieder häufiger gebrauchten Protestmittel der politischen Flugblätter, die sich zumeist an die „Geschichtsobjekte und -subjekte“ richteten. Sie wirken optisch wie Fanzines, in diesen war jedoch sozial- und zeithistorisches Wissen mit didaktischem Anspruch aufbereitet. Die Einladungsblätter gingen an ältere Personen zur Einstimmung auf die Veranstaltungen, die aber der Informationsflut des massenmedialen Zeitalters aus Fernsehen, Radio, Presse und der Ausbreitung des Personal Computers ausgesetzt waren. Sie mögen auch Erinnerungen an die Flugzettel der politischen Propaganda aus der Zeit ihres Erwachsenwerdens vor und während des Weltkrieges hervorgerufen haben. - Die Einladungsblätter, die den mündlichen und schriftlichen Prozess der Forschungsarbeit anstoßen sollten, waren auch eine Anleitung zum lebensgeschichtlichen und sozialhistorischen Nachdenken. Sie strukturierten zudem die Gesprächsabläufe.24 Sie vermitteln den Eindruck eines intensiven, kontinuierlichen und kommunikativen Arbeitsprozesses, der für die beteiligten Senior*innen mitunter fordernd gewesen sein dürfte, zumal es den Senior*innen einiges abverlangen musste, möglichst offen im kleinen öffentlichen Rahmen über schwierige und die eigene Lebensgeschichte betreffende Themen zu sprechen.25 Von diesen Anstrengungen abgesehen, die durch Wanderungen und Heurigenessen, Ausstellungsbesuche und die aktive Teilnahme an Symposien aufgelockert und zusammengehalten wurden, geht aber aus den Einladungsblättern auch Interesse und Begeisterung der Beteiligten hervor.26 Der lebensgeschichtliche Gesprächskreis wurde mit seiner fast sechsjährigen Dauer für viele wohl zu einem eigenen Lebensabschnitt. Zwei Teilnehmer aus dem Kreis verstarben währenddessen, ihre Parten wurden in die Einladungsblätter aufgenommen.
- Was die Einladungsblätter allerdings kaum zur Sprache bringen konnten, war die Bedeutung dieses Bildungs- und Forschungsprozesses für die beteiligten Senior*innen. Der lebensgeschichtliche Gesprächskreis diente nicht nur zur Gestaltung der Pension und als Bildungsselbstzweck, sondern erreichte mit dem „Ottakringer Lesebuch“ auch ein Ergebnis. Die Teilnehmer*innen konnten damit auch etwas hinterlassen. Mit dem Lesebuch wurde zudem eine Wirkung in der Öffentlichkeit erzielt.
- Eine nachträgliche Evaluierung mit den Beteiligten fand nicht statt. Es wurde verabsäumt, Interviews sowohl mit den jüngeren als auch den älteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufzuzeichnen. Offen bleibt, ob sich die Ansprüche der Projektgestalter und der beteiligten Senior*innen deckten und welche Motive für die Teilnahme ausschlaggebend waren? Was löste die Aktivierung bei den Beteiligten aus? Was bedeutete es für sie, ein sichtbares, lesbares Ergebnis des Prozesses in Händen zu halten? Der Gesprächskreis und das Ottakringer Lesebuch gewannen Vorbildcharakter für weitere Projekte und andere Texte. //
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