Eine Krise der Demokratie in Europa?
Herausforderungen für die Politische Bildung

In den repräsentativen Demokratien Westeuropas wird schon seit Längerem über die Grundfunktionen demokratischer Institutionen debattiert und konstatiert, dass konventionelle Partizipationsmuster in Österreich und Deutschland, wie etwa die Mitgliedschaft in Parteien, schwinden, die Wahlbeteiligung sinkt,2 Populismus zunimmt3 und die Entscheidungsbefugnisse von Parlamenten zum Teil in externe Expertengremien ausgelagert werden. Zumeist wird dabei ein früherer Idealzustand von Demokratie beschrieben oder von einer demokratischen Beratungsbefugnis von Parlamenten und einer hohen Partizipationsrate an Wahlen im historischen Vergleich ausgegangen.4

Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 werden die Demokratien in verschiedenen Ländern der Europäischen Union zudem vor besondere neue Herausforderungen gestellt, da durch die supranationale Ebene der Europäischen Union (EU) vermehrt Kompetenzen der Mitgliedsstaaten eingeschränkt oder zumindest der weiteren Kontrolle der supranationalen Institutionen unterstellt werden. Ich möchte diese Entwicklungen im Folgenden anhand einiger Beispiele darstellen. Somit wird das Spannungsfeld zwischen den supranationalen Institutionen der Europäischen Union mit deren zunehmenden nicht-demokratischen Tendenzen und nationalen Demokratien sichtbar. Zuerst werde ich dafür die derzeitigen ökonomischen Krisenentwicklungen und ihre exekutiv orientierten politischen Regulierungen darstellen. Anschließend wird Protest in der Demokratie in diesem Zusammenhang verortet, um abschließend die Herausforderungen für die Politische Bildung darzustellen.

Ökonomische Krisenentwicklungen und die Exekutive

Dass die noch andauernde Finanz- und Wirtschaftskrise die parlamentarische, repräsentative Demokratie besonders herausfordert, liegt daran, dass die systemischen Probleme der Finanzmärkte, nämlich Krisenzyklen zu generieren, durch politische Regulierungen zwar eingedämmt werden können, dabei aber vor allem exekutiv orientierte politische Maßnahmen ergriffen werden. In der Europäischen Union werden dabei neue Formen von sogenannten „Economic Governance“-Prozessen zwar durch das Europäische Parlament abgestimmt, dem Europäischen Parlament in der Folge aber keine weiteren Rechte der Mitbestimmung eingeräumt, über diese verabschiedeten Richtlinien und Verordnungen politisch bei Bedarf neu zu entscheiden. Nun ist gerade die Europäische Union in ihrem institutionellen Gefüge weit davon entfernt, einer nationalstaatlichen, repräsentativen Demokratie nahe zu kommen; sie kann jedoch als Beispiel herangezogen werden, warum auch die nationalstaatlichen, repräsentativen Demokratien derzeit vor neuen demokratiepolitischen Herausforderungen stehen.

Eine Form dieser neuen „Economic Governance“-Prozesse in der EU ist das so genannte „Sixpack“. Mit diesem seit Ende September 2011 rechtskräftigen Paket aus sechs Rechtsakten (fünf Verordnungen und einer Richtlinie)5 wird der seit 1996 bestehende Stabilitäts- und Wachstumspakt der Wirtschafts- und Währungsunion gestärkt und durch ein Verfahren zur wettbewerblichen Restrukturierung6 ergänzt.

Die Europäische Kommission will so im Bündnis mit den Staats- und Regierungschefs den Stabilitäts- und Wachstumspakt durch ein Verfahren zur „Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ ergänzen und entsprechende Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedsstaaten verbindlich regeln.7 Darüber hinaus wird die Rolle der Europäischen Kommission in den entsprechenden Verfahren aufgewertet: In Zukunft soll die Brüsseler Exekutive Entscheidungen, insbesondere auch die Verhängung von Sanktionen gegenüber den Mitgliedsstaaten, faktisch alleine treffen können durch das sogenannte „Reverse Majority Rule“8. dieses sieht vor, dass Vorschläge der Kommission als angenommen gelten, wenn sie nicht innerhalb von zehn Tagen durch das Veto des Europäischen Rates mit einfacher Mehrheit verhindert werden. Vorher musste sich die Kommission mit 62 Prozent Mehrheit im Rat die Zustimmung für ihre Vorschläge sichern. Mit dem Argument, schnell und effektiv handlungsfähig zu bleiben während der Finanz- und Wirtschaftskrise, werden so eventuell aber auch demokratische Entscheidungsprozesse eingeschränkt, da diese zehn Tage Frist für deren Prüfung, deliberative Beratungen und ein eventuelles Veto des Europäischen Rats sehr kurz ist und kaum realisierbar erscheint. Das Europäische Parlament ist an diesem Prozess nicht einmal mehr beteiligt.

Gleichzeitig werden in den von Austeritätsmaßnahmen betroffenen Nationalstaaten die Proteste der Bevölkerungen gegen diese austeritätsbezogenen Politikvorgaben, vor allem in Griechenland, Spanien und Portugal, mit rein exekutiven Mitteln begegnet, wie, um ein Beispiel zu nennen, der spanische Innenminister in einem Gesetzesentwurf von Anfang April 2012 vorsieht. Innenminister Jorge Fernández Díaz will gewalttätige Proteste und Ausschreitungen in Spanien möglichst verhindern: „Ein […] im Parlament eingebrachter Gesetzesentwurf sieht Strafen für die Organisatoren gewalttätiger Ausschreitungen vor. Mindestens zwei Jahre Gefängnis will der Politiker der Partido Popular (PP) zudem für Anstiftung zur Störung der öffentlichen Ordnung durch Medien oder soziale Netzwerke durchsetzen. Der Minister warnt vor ‚Gewalt in großem Ausmaß‘, die mit ‚Techniken der Stadtguerilla‘ organisiert werde.“9 Gleichzeitig hofft der umstrittene katalonische Innenminister Puig darauf, dass „die Leute mehr Angst vor dem System haben und deshalb nicht mehr so wagemutig sind [öffentlich zu protestieren; Anm. SW].“10

Nun kann man zwar gewalttätige Ausschreitungen und gewalttätige Proteste als antidemokratisch verurteilen. Angesichts der durchgesetzten Sparmaßnahmen in Griechenland und auch in Spanien ist es allerdings höchst problematisch, wenn ein nationalstaatlicher politischer Repräsentant sich öffentlich wünscht, dass die „Leute mehr Angst vor dem [demokratischen] System haben“. Das Schüren einer „Angst vor dem System“ ist gewiss nicht weniger antidemokratisch als die inkriminierten Ausschreitungen bei den besagten Protesten. Das demokratische Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wird so, besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten, grundsätzlich infrage gestellt. Regierungsverantwortliche greifen zudem in der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise gerne auf die Notwendigkeit und Begründung des „Schnell Handeln-Müssens“ zurück, da sonst die Finanzmärkte nicht befriedet würden und es somit durch Ratingagenturen noch schneller zu Abstufungen einzelner Länderbonitäten kommen könnte.

Diese Logik angeblicher Sachzwänge, die immer schon den Interessen der Finanzmärkte folgt und somit quasi den systemischen Widerstreit zwischen Demokratie und Finanzmärkten in der Finanzkrise aufrecht erhält, anstatt demokratische Prozesse zu deren politischer Steuerung einzuführen, erfordere für die parlamentarische Mitbestimmung, um es in den Worten der deutschen Bundeskanzlerin auszudrücken, Folgendes: „Wir leben ja in einer Demokratie, und das ist eine parlamentarische Demokratie, und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments, und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale auch ergeben“11. Diese „marktkonforme“ politische Logik und politische Rationalität des Regierens durchzieht mittlerweile Teile der Exekutive und des öffentlichen parteipolitischen Elite-Diskurses ohne dabei das eigene Demokratieverständnis oder die Legitimität d er Argumente infrage zu stellen. Diese marktorientierten Tendenzen und die politische Rationalität des exekutiv orientierten Regierens sind derzeit ein deutlich hervortretendes Symptom und Bestandteil der Krise der repräsentativen Demokratie.12

Diese krisenhafte Dimension der politischen Repräsentation, also das Schwinden von Transparenz und Öffentlichkeit durch exekutiv orientiertes Regieren, die Einführung exekutiver Krisenlösungsstrategien auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union und in einzelnen Nationalstaaten wird derzeit über die Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt. Hinzu kommt, dass demokratische, soziale Grundrechte in einigen Ländern zunehmend gefährdet werden, weil unter anderem die Arbeitslosigkeit sehr stark gestiegen ist (wie z. B. in Spanien, Portugal und Griechenland) und die vorgegebenen Austeritätsmaßnahmen keinen alternativen Weg zur Lösung der nationalen Haushaltsdefizite ermöglichen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1996 sowie die nachfolgenden Regelungen wie das Sixpack und der Euro-Plus-Pakt sind weiterhin rein wettbewerbsorientiert und geben nur monetäre Konvergenz- und Stabilitätskriterien vor.13

Protest in der Demokratie

Die demokratische Konsenserzeugung kann aufgrund der eben beschriebenen exekutiven politischen Maßnahmen und der strikten Austeritätsprogramme in den von der Finanzkrise besonders hart betroffenen Ländern nicht mehr unbedingt mehrheitlich aufrechterhalten werden und die soziale Krise von Arbeitsplatzverlusten und Kürzungen im öffentlichen Sektor damit nicht flächendeckend auffangen. Im Gegenteil: Die seit 2008 erfolgte Problemverschiebung von einer „Finanz“- zu einer „Staatsschuldenkrise“ macht demokratische Staaten nun haftbar für Privatbanken und sozialisiert das sogenannte „Systemrisiko“. Besonders in Spanien, Griechenland und Portugal hat dies bereits jetzt gravierende Folgen für die Sozialsysteme, das Gesundheitssystem und die Existenzsicherung der breiten Bevölkerung sowie den sozialen Frieden und den Zustand der repräsentativen Demokratie im jeweiligen Land.

Dass einige Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich derzeit in einer Krise ihrer repräsentativen, liberalen Demokratien befinden lässt sich jedoch noch nicht mit den oben angeführten Beispielen allein begründen. Auch die internationalen Proteste von Occupy Wall Street bis hin zu „Echte Demokratie. Jetzt!“ im Jahr 2011 in Spanien und andernorts weisen darauf hin, dass das repräsentative System der liberalen Demokratien nicht mehr unbedingt die Mehrheit der Bevölkerungsinteressen spiegelt.14 In Spanien ist bei der Neuwahl 2011 die Wahlbeteiligung um zirka fünf Prozent gesunken und seitens der Protestierenden wurde auf die nicht vorhandene Repräsentation in den Demonstrationen und Platzbesetzungen immer wieder hingewiesen. „Das Volk“ werde nicht mehr repräsentiert, jedenfalls jener Anteil der Bevölkerung, der sich bereits in der sozialen Abwärtsspirale befindet. Die Occupy Wall Street-Bewegung in den USA und andernorts richtete sich währenddessen gegen die Macht der Großfinanzdienstleister. Gefordert wurde eine Neubestimmung von finanzmarktpolitischer Steuerung und finanzmarktpolitischen Entscheidungen. Dazu gehöre die Beschränkung der Macht von Groß- und Zentralbanken, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, sowie in der EU auch eine Kritik an der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihr bisher alleiniger Zweck der Geldwertstabilität.15

Grundsätzlich geht es in diesen Protesten um die unspezifizierte Forderung nach einer nachhaltigen und demokratischen Lebensweise und darum, diese Lebensweise nicht vom finanzmarktdominierten Kapitalkreislauf und somit von den finanzmarktbezogenen spekulativen monetären Kreisläufen und ihrer hohen Volatilität abhängig zu machen. Die Protestierenden wollen selbst bestimmen, wie sie leben, und sich dabei nicht von mächtigen finanzmarktorientierten Lobbygruppen oder Finanzkonzernen die Rahmenbedingungen für das demokratische System vorgeben lassen. Das heißt auch, die als notwendiger „Sachzwang“ argumentierten Kürzungen im öffentlichen Sektor nicht einfach hinzunehmen, und die Arbeitsmärkte und demokratischen Verfahren nicht von den Finanzmärkten allein abhängig zu machen. Es geht diesen Protest-Bewegungen also darum, Demokratisierungsprozesse einzufordern, die von den institutionellen politischen RepräsentantInnen und Regierenden in Form der politischen Repräsentation der Bevölkerung nicht mehr eindeutig zu deren Gunsten wahrgenommen werden.16 Teile der sogenannten „Mittelschicht“ und eine zunehmende Gruppe von sozial Prekarisierten innerhalb der EU und in den USA haben durch diese Proteste darauf hingewiesen, dass sie sich weder von den politisch gewählten RepräsentantInnen noch von zivilgesellschaftlichen Organisationen angemessen mit ihren Interessen vertreten sehen.

Krisenhaftigkeit als Herausforderungen für die Politische Bildung

Die Demokratie als Staatsform lässt sich als permanent krisenhaft beschreiben, weil sie generell Entscheidungsdruck für alle Wahlberechtigten und politische RepräsentantInnen bedeutet. Daraus folgt, dass es nicht darum gehen kann, die Krisenhaftigkeit der repräsentativen Demokratie an sich zu überwinden, denn das wäre das Ende der Demokratie als „unendlicher Aufgabe“.17 „Demokratie“ im Sinne Derridas kann niemals gänzlich realisiert werden, denn das würde die totale Inklusion bedeuten, die zur Vereinheitlichung und Gleichmachung aller Menschen führen würde. Damit bliebe aber kein Platz für Differenz und deren Anerkennung, die ebenso wichtig ist in einer Demokratie. Für die Politische Bildungsarbeit ergeben sich daher verschiedene Dimensionen der politischen Aufklärung, die in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung berücksichtigt werden sollten:

Die Demokratie lässt sich erstens als permanent krisenhaft beschreiben, weil die Ökonomie und die Finanzmarktarchitektur sich schneller verändert haben, als die politische, institutionelle Struktur der repräsentativen liberalen Demokratie diese Systemwidersprüche – zwischen nicht demokratisch agierenden ökonomischen AkteurInnen einerseits und dem demokratischen, politischen System andererseits – demokratisch aufgegriffen hat. Deshalb ist es umso wichtiger, die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen von Demokratie und Wissen über ökonomische Vorgänge in der politischen Bildungsarbeit aufzugreifen und zu thematisieren.

Gleichzeitig ist politische Repräsentation an sich in diesem Kontext nicht die alleinige Lösung, sondern Teil des Problems, und insofern eine weitere Dimension von Krisenhaftigkeit der repräsentativen Demokratie; denn wie soll verhindert werden, dass auch in Zukunft nur die gehört werden, die Macht, Bildung und genügend Geld haben, zu sprechen, ihre Interessen zu veröffentlichen und somit repräsentiert zu werden? Das Problem der Nichtrepräsentation von marginalisierten Interessen in liberalen repräsentativen Demokratien wird schon lange seitens postkolonialer und feministischer TheoretikerInnen hervorgehoben18 und verschiedene Frauenbewegungen stellen das liberale, demokratische Repräsentationsverständnis seit mehr als 150 Jahren in Frage. Denn die liberale Demokratie ist historisch immer schon von spezifischen Ausschlüssen geprägt, sei es durch die mangelnde Repräsentation bestimmter Interessen von sozial Marginalisierten oder der mangelnden Repräsentation der Interessen von denjenigen, die mit sozialen Reproduktionsleistungen im Privathaushalt beschäftigt sind. Das bestehende ökonomische System gesellschaftlicher, geschlechtsspezifischer und ethnischer Herkunft bedingter Arbeitsteilung müsste hierfür stark verändert werden, um die Partizipationsmöglichkeiten z.B. von (migrantischen) Frauen zu erhöhen, wie demokratiebezogene Studien immer wieder belegt haben.19

Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise macht zudem offensichtlich, dass die im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Repräsentationsformen der repräsentativen Demokratie nicht ausreichen, weil sie nicht mehr dem erhöhten Partizipationsbedarf bestimmter Bevölkerungsgruppen entsprechen.20 Die Krise der repräsentativen Demokratie wird in dieser Hinsicht dann offensichtlich, wenn die Bevölkerung aufgrund der ökonomischen Krisenverschärfung nicht einmal mehr über die materiellen Ressourcen verfügt, sich selbst zu beherrschen, um ein selbst bestimmtes Leben führen zu können, wie derzeit in Griechenland immer offensichtlicher wird; geschweige denn, dass sie innerhalb der demokratischen Herrschaftsstruktur eine merkbare Macht ausüben könnten, abgesehen davon, alle vier bis fünf Jahre zur Wahlurne zu gehen. Diese Dimension von Krisenhaftigkeit belegen auch die von Pierre Bourdieu vorgelegten empirischen Ergebnisse, dass Angst und Ärger dann als Folgen sozialer Ungleichheiten eintreten, wenn die Benachteiligten nicht mehr das Gefühl haben, über ihr eigenes Leben autonom entscheiden zu können.21 Demokratiewirksam wird dies dann, wenn die Kritikfähigkeit der Bevölkerung zu mehr unkonventioneller politischer Beteiligung in Form von Protest führt und in Generalstreiks mündet, wie sie in Griechenland, Portugal und Spanien bereits stattgefunden haben.

In dieser Situation lässt sich eine weitere Dimension der Krisenhaftigkeit der repräsentativen, liberalen Demokratie festmachen, die in der Verminderung sozial-ökonomischer Existenzsicherung und grundlegender demokratischer sozialer Rechte besteht, die in den meisten Verfassungen westlicher Demokratien verankert sind. Die Auswirkungen verminderter sozialer Rechte sind unberechenbar, sodass verschiedene politische Szenarien entstehen können, wie z. B. im massiven Zulauf zu den rechtsextremen Parteien in Ungarn und Frankreich und auch im Rückzug aus herkömmlichen konventionellen parteipolitischen Partizipationsformen zu sehen ist.22

Das Ringen um die Demokratie als Form politischer Herrschaft in Zeiten, wo der ökonomische Kapitalkreislauf so unterschiedliche, jedoch voneinander abhängige Märkte geschaffen hat, führt dazu, dass das Wissen um diese Verschränkungen und das Nichtwissen um ihre gegenseitigen spezifischen Auswirkungen zudem zu einer Form von Expertentum in der Demokratie geführt hat, sodass diese Expertinnen und Experten als legitime Entscheidungsfinder fungieren, wenn es um politisch legitimiertes, demokratisches Regieren geht. Dies lässt sich als weitere Dimension der Krise repräsentativer Demokratie beschreiben, denn der Status des technokratischen Experten folgt nicht einem demokratischen Prinzip von Beteiligung, sondern ist an sich eine hierarchische Figur, selbst wenn sie demokratisch legitimiert eingesetzt wurde. Für die Politische Bildungsarbeit heißt dies, kritische Politische Bildung zu sein, die Wissen vermittelt, selbstreflexiv ist und viele Fragen stellt.

Eine weitere Dimension von Krisenhaftigkeit liegt zudem im exekutiv orientierten Regieren und dem damit verbundenen, möglichen Schwinden von parlamentarischen Öffentlichkeiten, seien sie nun nationalstaatlich oder auf supranationaler Ebene der Europäischen Union angelegt. Zudem wird in einer weiteren Dimension von Krisenhaftigkeit durch eine auf „Sachzwänge“ hin orientierte Logik, das Primat der Politik und die Möglichkeiten, öffentlich und auf längere Dauer Themen zu verhandeln und zu diskutieren, infrage gestellt. So werden in der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise die schnellen Handlungsoptionen der Finanzmärkte auf die Form der liberalen Demokratie selbst übertragen, und dabei oft nicht gefragt, ob dies normativ wünschenswert oder politisch legitim sei.

Diese Dimensionen der Krisenhaftigkeit der repräsentativen Demokratie stellen derzeit große Herausforderungen an die Demokratie an sich dar und es wäre nicht nur demokratietheoretisch von Bedeutung, sondern auch für die Politische Bildung sehr relevant, über diese Dimensionen und die Vorstellungen von Demokratie weiterhin öffentlich vermehrt zu diskutieren. //

1   Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Autorin entnommen aus: Diendorfer, Gertraud et al. (Hg.): Bildungsfragen: Europa und ökonomisches Lernen, Schwalbach/Taunus 2015: Wochenschau Verlag, S. 26 – 34

2   Vgl. De Néve, Dorothée (2009): NichtwählerInnen. Eine Gefahr für die Demokratie? Opladen: Budrich.

3   Vgl. Jörke, Dirk (2011): Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1/2), 13–17.

4   Vgl. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.

5   Vgl. Verordnung (VO) 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken; und VO 1173/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet.

6   Vgl. Verordnung (EU) VO Nr. 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte; VO 1174/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet. „Euro-Plus-Pakt“.

7   Vgl. Klatzer, Elisabeth & Schlager, Christa (2011): Europäische Wirtschaftsregierung. Eine stille neoliberale Revolution? In: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, (1), 61–81.

8   Vgl. Oberndorfer, Lukas (2011): Economic Governance rechtswidrig? Eine Krisenerzählung ohne Kompetenz. In: AK-Infobrief EU & International, (3), 7–12.

9   Vgl. Innenminister will zwei Jahre Mindeststrafe für Protestaufrufe. In: Der Standard, 13. April 2012. Verfügbar unter: http://derstandard.at/1334132406966/Innenminister-will-zwei-Jahre-Mindeststrafe-fuer-Protestaufrufe?seite=5 [25.7.2012].

10   Ebd.

11   Angela Merkel. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=rIRoVwpG7DQ [25.9.2012].

12   Vgl. Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas. Frankfurt a. Main: Suhrkamp; Wöhl, Stefanie (2011): Die politische Rationalität des Neoliberalismus. Eine demokratietheoretische Betrachtung im Anschluss an Wendy Brown. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 40 (1), 37–48.

13   Vgl. Fischer-Lescano, Andreas & Kommer, Stefan (2011): EU in der Finanzkrise: Zur Leistungsfähigkeit des Verfahrens der verstärkten Zusammenarbeit. In: Kritische Justiz, 44 (4), 412–433.

14   Vgl. Castellanos, Christina, Henar, Leticia & González, Elvira (2011): Protests in Spain. A Gender View. In: Femina Politica, (2), 109–112.

15   Vgl. Wöhl, Stefanie (2010): Die Sozial- und Beschäftigungspolitik der Europäischen Union in der Krise. In: Elmar Altvater, Hans-Jürgen Bieling, Alex Demirovic, Heiner Flassbeck, Werner Goldschmidt, Mehrdad Payandeh & Stefanie Wöhl, Die Rückkehr des Staates? Nach der Finanzkrise. Hamburg: VSA; Wöhl, Stefanie (2013): „Occupy Wall Street“. Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf demokratische Repräsentation und politische Partizipation. In: Dorothée de Nève & Tina Oltanu (Hrsg.), Politische Partizipation jenseits der Konventionen. Opladen: Budrich.

16   Vgl. Kastner, Jens, Lorey, Isabell, Raunig, Gerald & Waibel, Tom (2012): Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen. Wien: Turia + Kant.

17   Derrida, Jacques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a. Main: Suhrkamp; siehe auch Richter, Emmanuel (2006): Das Analysemuster der „Postdemokratie“. Konzeptionelle Probleme und strategische Funktionen. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 19 (4), 23–37.

18   Vgl. Sauer, Birgit (2011): „Only paradoxes to offer?“ Feministische Demokratie- und Repräsentationstheorie in der „Postdemokratie“. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 40 (2), 125–138.

19   Vgl. Westle, Bettina & Schoen, Harald (2002): Ein neues Argument in einer alten Diskussion: „Politikverdrossenheit“ als Ursache des gender gap im politischen Interesse? In: Frank Brettschneider, Jan van Deth & Edeltraud Roller (Hrsg.) , Das Ende der politisierten Sozialstruktur? (S. 215–244). Opladen: Budrich.

20   Vgl. de Néve, Dorothée & Olteanu, Tina (Hrsg.) (2013): Politische Partizipation jenseits der Konventionen. Opladen: Budrich.

21   Vgl. Bourdieu, Pierre (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. (Edition Discours. Klassische und zeitgenössische Texte der französischsprachigen Humanwissenschaften. Bd. 9).

22   Vgl. Merkel, Wolfgang & Petring, Alexander (2012): Politische Partizipation und demokratische Inklusion.
In: Tobias Mörschel & Christian Krell (Hrsg.), Demokratie in Deutschland. Zustand – Herausforderungen – Perspektiven (S. 93–119). Wiesbaden: Springer VS.

Wöhl, Stefanie (2017): Eine Krise der Demokratie in Europa? In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Juni 2017, Heft 261/68. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.