Sinnvoll tätig sein – ein Grundeinkommensexperiment

1. Ausgangslage

Im Rahmen einer sogenannten Jobmesse findet eine Veranstaltung zum Thema „Zukunft der Arbeit“ statt. Es ist ein sogenannter Bildungsgipfel, und im Auditorium sitzen alle Direktorinnen und Direktoren der Schulen der Region. Der Referent, Professor einer Fachhochschule und Fachmann für digitale Entwicklung, spricht über die Veränderungen in Betrieben und die Anforderungen an MitarbeiterInnen. Zwar gibt es Studien, die Auskunft geben über die Anzahl der wegfallenden Arbeitsplätze, auch über solche, die neu entstehen. Aber der Mann bleibt vage. Allerdings sagt er, „wir werden nicht alle, die Arbeit suchen, dafür brauchen, und wir werden auch nicht alle auf den dafür notwendigen Bildungsweg mitnehmen können.“ Die Reaktion aller SchulleiterInnen war sofort: „Wie können wir unsere SchülerInnen 4.0 fit machen?!“ Ich saß mitten drin und fragte mich, was denn mit jenen Jugendlichen, Frauen und Männern passiert, die da also „nicht mitgenommen“ werden können. Wir wissen, dass auch das Ehrenamt in Vereinen und Initiativen ähnlichen Bedingungen unterworfen ist wie Erwerbsarbeit. Wenn also Menschen ausgegrenzt werden, dann stellt sich zuerst die Frage, was passiert mit diesen und danach, was mit den gemeinnützigen Einrichtungen und Kommunen? Was ist dann die Zukunft des öffentlichen Raumes? Wie entwickelt sich Zusammenleben?

Seit Jahren machen wir in Heidenreichstein im nördlichen Waldviertel die Erfahrung, dass manche Menschen, egal welchen Alters, (oftmals geringer) Ausbildung oder Geschlechts, keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Sie werden von der Wirtschaft aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gewollt. Und die Anzahl der Betroffenen steigt. Bestenfalls kommen sie noch in Beschäftigungsprojekten unter. Doch auch da sind die Auswahlkriterien schon sehr hoch und können oft nicht erfüllt werden. Alle diese Menschen, vom Arbeitsmarkt derzeit nicht gebraucht, haben aber Fähigkeiten und Qualifikationen, die einen wesentlichen und unverzichtbaren Beitrag für unsere Gesellschaft darstellen könnten. 

Daher war es für uns an der Zeit, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und anstatt des Mangels, warum jemand keinen Arbeitsplatz bekommt, von dem auszugehen, was Menschen in die Gesellschaft einbringen können und dies unter dem Aspekt „Neuer Arbeit- Herzensarbeit“ zu sehen. Ursprung war eine Frage an die Bevölkerung: „Was möchtest du von Herzen gerne tun?“ Und irgendwann veranstalteten wir ein Philosophisches Café zum Thema „Können Herzensangelegenheiten die Welt verändern?“ Dabei wurde die Idee geboren statt irgendwelcher Kurse seitens des AMS (manche Langzeitarbeitslose mussten schon den zweiten, dritten oder vierten Berufsorientierungskurs absolvieren) für sechs Monate der jeweiligen Herzensangelegenheit nachzugehen. Wir haben dies in der Landesgeschäftsstelle des AMS verhandelt und bewilligt bekommen. Der große Vorteil war die Bedingungslosigkeit. Egal welche Qualifikation, gesundheitliche Verfassung oder Alter, alle konnten daran teilnehmen. Während in Projekten die Eigenerwirtschaftung und Vermittlungsquote ständig stieg, konnten wir ohne Vorbedingung die Chance geben. So ging es los!

Eintrittsbewilligung in die Maßnahme war ein persönlich geäußertes Bedürfnis, einer Tätigkeit nachgehen zu dürfen, die Frau oder Mann sich wünscht oder einer besonderen Fähigkeit entspricht. Das dafür wichtige soziale Umfeld – es soll niemand isoliert bleiben – wurde gemeinsam erarbeitet. In Heidenreichstein begannen wir mit dieser Maßnahme (wir nannten sie „Von Herzen gerne tätig sein“) bereits 2011. Die Auswirkungen waren sehr unterschiedlich.

Knapp 50 Personen haben die Maßnahme bisher absolviert, nur zwei davon beendeten sie vorzeitig, einige konnten um weitere drei Monate verlängern. 

  • Aus „Nicht-Arbeiten-Dürfen“ wird für viele eine neue Art von Arbeit.
  • Manche entdecken an sich neue oder lange vergrabene Talente.
  • Alle bedauern, dass es nach sechs Monaten aus ist.
  • Gesundheitliche Probleme erweisen sich nicht als Hindernis, sondern werden durch die neue Art von Tätigkeiten eher gemildert.
  • In der Mehrheit der Fälle ergibt sich die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, Ausbildung oder weiteres ehrenamtliches Engagement.
  • Durchwegs alle TeilnehmerInnen empfinden ihre Tätigkeit als sinnvoll, entwickeln sich weiter und fühlen sich als wertvolles Mitglied der Gesellschaft.

2. Kurzbeschreibung

Die Maßnahme „Von Herzen gerne tätig sein“ wird vom AMS als gleichwertiger Ersatz für eine Kursmaßnahme unter folgenden Gesichtspunkten genehmigt:

  • Freiwillige Auswahl einer Tätigkeit oder Mitarbeit bei einer gemeinnützigen Initiative. 
  • Dauer maximal sechs Monate im Ausmaß von 16 bis 25 Wochenstunden (in Ausnahmefällen: Verlängerung um drei Monate).
  • Einstieg und Ausstieg jederzeit möglich (Vermittlung durch AMS).
  • Wöchentliche Begleitung und Reflexion.
  • DLU und Unfallversicherung während der Teilnahme.

2.1. Statements und Auswirkungen

Vielen TeilnehmerInnen kommen die zwischenmenschlichen Kontakte und die vermehrte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zugute. Sie erhalten Anerkennung, Beachtung und Dank für ihre erbrachten Leistungen, Wissen und Können. Das Selbstwertgefühl steigt.

Einige Rückmeldungen:

„Die Maßnahme hat mein Leben umgekrempelt, ich werde auf der Straße gegrüßt und ich fühle mich respektiert, ich gehöre dazu. Vorher war ich nur ein »Zuagroaßter«. Das fühlt sich nun gut an. Es kommt eine gewisse Rührseligkeit auf, wenn ich daran denke, dass die Maßnahme nur sechs Monate dauert. Ich werde bei den Tätigkeiten eingeplant, man braucht mich. Auch habe ich mit der Teilnahme an der Maßnahme das Gefühl, dass ich der Gesellschaft etwas zurückgeben kann.“

„Bei dem Verein, bei dem ich bin, ist es einfach nur schön. Da geht was weiter. Ich bekomme zwar einen Einsatzplan, habe aber freie Hand. Man vertraut mir und verlässt sich auf mich.

„Ich bekomme Lob für meine Arbeit, ich gehöre dazu.“

„Mir wird Vertrauen entgegengebracht, was ich von der eigenen Familie nicht bekomme. Ich kann etwas leisten und weil ich das weiß, ist mein Selbstbewusstsein gestärkt.

„Schade, dass die Maßnahme nur sechs Monate dauert. Ich habe viel gelernt und es hat mir Spaß gemacht, ich habe wieder einen geregelten Tagesablauf. Ich mache nach Beendigung der Maßnahme ehrenamtlich weiter.“

3. Sinnvoll tätig sein – ein Grundeinkommensexperiment

Auf dieser Erfahrung gingen wir einen Schritt weiter. Zwischen April 2017 und Jahresende 2018 hatten 44 Frauen und Männer – von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffene – aus Heidenreichstein die Möglichkeit an einem Experiment teilzunehmen: Für insgesamt 20 Monate waren sie aus der Vermittlung ausgenommen und konnten sich fragen, was sie denn von Herzen gerne tun würden. Das entspricht einem Menschenbild, das davon geprägt ist, dass jeder Mensch einmalige Fähigkeiten hat, auf die die Gesellschaft nicht verzichten kann. Das Einbringen dieser Fähigkeiten in die Gemeinschaft macht uns allesamt reicher. Es bringt Anerkennung und macht uns berührbarer, weil wir keine Leistungsfassaden aufbauen brauchen. 

3.1.  Es ist Zeit

„Es wird Zeit, etwas in Österreich mit Grundeinkommen zu probieren!“, sagt ein Freund zu mir. Darauf erzähle ich von Werner, dem Schriftsteller, der allerdings davon nicht leben kann und nun in der Bibliothek mitarbeitet; von Andrea, die in einer geschützten Werkstätte hilft, dort Erfahrungen sammeln und lernen will, weil sie die Pflege einer jungen Frau mit Behinderung übernimmt. Ich erzähle von Franz, dem Fußballfan, der nun freiwillig als Platzwart mithilft, von Martin, von Lisa und anderen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Rahmen der AMS-Maßnahme „Von Herzen gerne tätig sein“ sechs Monate ausprobieren konnten, was ihnen wirklich ein Anliegen ist. 

Einige Zeit später verhandeln wir – und es wird genehmigt. Für TeilnehmerInnen heißt dies: Keine Wege zum AMS, keine Bewerbungen, keine Sorge um den Bezug, der läuft einfach weiter. Uns war klar, bedingungsloses Grundeinkommen ist das nicht, aber wir dachten pragmatisch: Welche Möglichkeiten gibt es in Österreich überhaupt, wenn nicht durch das AMS?

Voraussetzung für die Teilnahme war die Absicht, „eigene Fähigkeiten zu erkennen, sie weiterzuentwickeln und mit anderen zu teilen“ – so definieren wir Arbeit! Unsere Neugier: Was verändert sich bei einzelnen Personen und was in einer Kleinstadt wie Heidenreichstein, wenn etwa ein Prozent der Bevölkerung teilnimmt, das bisher weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen ist. Denn „Wer arbeitslos ist, ist draußen!“ hören wir oft. Vermittlungsabsicht gab es nicht! 

Viele konnten mit der von uns gegebenen Freiheit zunächst nichts anfangen. Werner, der Schriftsteller, war froh, denn ein Grundeinkommen hat er sich schon immer gewünscht. Michaela, eine Alleinerzieherin, hatte nun die Ruhe, sich um ihre Kinder und den schwerkranken Nachbarn zu kümmern. Bertl, der lange in einem Burnout war, sah die einmalige Gelegenheit, eine Motorradwerkstätte aufzubauen. Irene fragte mehrmals, wer ihr denn jetzt eine Arbeit anschaffen wird. Es dauerte mehrere Monate, bis klar war: Da will niemand etwas von ihr. Keiner sagt, das ist gut oder schlecht, es wird nichts Bestimmtes erwartet. Was sie tut oder nicht tut, macht sie um ihrer selbst willen. 

Wundersame Dinge geschahen. Die Masken konnten fallen, Verletzlichkeit trat zu Tage und durfte sein. Diese Offenheit machte mit einem Mal Neues möglich. Da wurde Hilfe angeboten und in Anspruch genommen, wurden Freundschaften geschlossen, Sprachkurse für die TeilnehmerInnen nicht deutscher Muttersprache und Weiterbildungen organisiert, Interessensgruppen gebildet, neue Arbeit entwickelt, Ausbildungen begonnen. Wir nahmen Druck, gaben Wertschätzung und Anerkennung. Ansonsten setzten wir Akzente, ohne dabei aufdringlich zu sein: Turnen für die Wirbelsäule, Erste-Hilfe-Kurs, Vortrag einer Psychologin, Gespräch mit der Schuldenberatung, Information über gewerbliche Tätigkeiten, industriegeschichtlicher Rundgang durch die Stadt, Kultur, Blick auf die eigene Biografie. Wer dabei sein wollte, hatte Gelegenheit dazu.

Monatlich trafen wir uns zum Plenum. Alle hatten ein Tagebuch. Kontrolle darüber gab es nicht. Es war ein persönliches Buch. Nach einiger Zeit entstand auch Vertrauen. Es dauerte, bis klar war, dass wir nichts vorgaben, dass das, was passiert, nicht unseretwegen geschieht, wir keine Berichte über Personen gaben, ja sogar die Anonymität gegenüber der Öffentlichkeit wahrten. Gabi stellte einmal fest, ich hätte mich mit manchen unserer Gruppe im Kaffeehaus nie zusammengesetzt. Sie lernten sich gegenseitig kennen und schätzen. Niemand lag auf der „sogenannten faulen Haut“. Alle hatten Aufgaben: Kinder, zu pflegende Alte, Nachbarn wurden versorgt, im Wald gearbeitet, die kleine Landwirtschaft betrieben, Tiere betreut, Hobbies nachgegangen, Engagement in Vereinen. Manche hatten allein mit ihrer Gesundheit zu tun, mit Arztbesuchen, Therapien. Für Hans gab es eigentlich nur die Pension, seine Arbeitsunfähigkeit war offensichtlich. Er war nicht der Einzige, dem es so erging.

Daneben entstand ein reges Miteinander: Gruppen bildeten sich: Gründung eines eigenen Betriebes, soziale Arbeit, Tiere, Natur. Natürlich gab es auch Einzelgänger: Georg, unser Klavierspieler und Werner, der Schriftsteller. Aber sie waren bei den Aktivitäten dabei. Mit allen gab es regelmäßige Gespräche, um zu sehen, wo es Unterstützung braucht oder um mitzubekommen, wo einzelne Personen geradestehen. 

3.2. Anerkennung – der Schlüssel im Projekt

Der wesentliche Punkt in unserem „Experiment“ war: Anerkennung! Anerkennung hat eine Voraussetzung, nämlich eine Atmosphäre ohne Druck und Rechtfertigung, und eine Konsequenz: Eigenverantwortung.

Die Befreiung von Ängsten und Druck ist ein Prozess: Zeit haben, sich auf sich selbst konzentrieren. Für manche bedeutet das zum ersten Mal in ihrem Leben, sich die Frage zu stellen: Was ist mein Weg? Die Frage, was denn jetzt wirklich zu tun ist, verunsichert. Denn es stellt den Arbeitsbegriff auf den Kopf: Arbeit war bisher etwas, was jemand aus ökonomischem Interesse heraus von mir verlangt, und ich, indem ich es tue, dafür entlohnt werde. Nun heißt es: Schau auf deine Fähigkeiten und bring sie ein! Wie mühsam das ist, erfahren alle. Es als Arbeit zu bezeichnen, gelingt den meisten vorerst nicht.

Anerkennung gehört zum Menschsein dazu. Alle sind stolz, wenn sie etwas schaffen, und der Zuspruch der anderen stärkt den Rücken: die Erwähnung im Freundeskreis, das Bild in der Lokalzeitung, die Verleihung des Ehrenzeichens im Verein. Gleichzeitig ist die Verweigerung von Erwerbsarbeit und langanhaltender Arbeitslosigkeit ein Ausschluss aus der Gesellschaft und damit Verweigerung von Anerkennung. Uns geht es zunächst nur darum, zum Ausdruck zu bringen: Hier brauchst du dich nicht zu rechtfertigen: Du bist! Dein Bemühen, dein Tun wird von uns keiner Wertung unterzogen. Hier bist du als Mensch geschätzt und wir haben die Zeit zu schauen, was du brauchst, zu lernen, und wir machen uns gemeinsam auf den Weg. 

3.3. Berührbarkeit: Wir alle haben uns verändert

Ja, wir alle haben uns verändert, der gemeinsame Prozess hat uns verändert: unsere Sichtweisen, unser Verständnis, unser Wissen, unser Bewusstsein. Wir sehen uns Menschen gegenüber, 

  • die wir seit Jahren kennen, von denen uns Vorurteile seitens Schulen, Behörden und MitbürgerInnen bekannt waren, die wir aber ganz neu kennenlernen durften, mit allem, was sie bewegt, mit ihren Fähigkeiten, aber auch mit ihren Schwächen;
  • die wir bisher übersehen haben, obwohl sie seit längerer Zeit in Heidenreichstein leben;
  • die uns staunen lassen über das, was alles möglich ist.

Wir erleben mit ihnen Freude am Leben und Solidarität, aber auch Krankheit, die Last des Alltags, Hoffnungslosigkeit, ausgegrenzt sein, Zurückhaltung und Misstrauen. Und wir versuchen da zu sein. Wir erfahren gemeinsam Bereicherung, Ermutigung und Stärkung. Es ist Zeit, die uns geschenkt wird. Es ist Zeit für eine Option für die Schwächeren unter uns! Wer berührt wird, kann nicht anders! //

1   Karl Immervoll im Förderantrag an das AMS vom 12.10.2016.

Literatur

Dimmel, Nikolaus, Immervoll, Karl & Schandl, Franz (2019): Sinnvoll tätig sein. Wirkungen eines Grundeinkommens. Wien: ÖGB-Verlag.

Immervoll, Karl (2021): Sinnvoll Tätig Sein – ein Grundeinkommensexperiment. In: Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung. Frühjahr/Sommer 2021, Heft 273/72. Jg., Wien. Druck-Version: Verband Österreichischer Volkshochschulen, Wien.

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