„Ihr versteht mich nicht!“ „Ihr habt euch nie für meine Empfindungen interessiert!“ „Ihr wusstet nie, wie es mir wirklich ging!“
Missbilligende Urteile über den Nachwuchs sind seit der Antike bekannt. Eher jüngeren historischen Datums sind „Klagen“ von Kindern, Jugendlichen oder schon Erwachsenen über ihre Eltern. „Beklagt“ werden Abweichungen des Verhaltens der Eltern vom Idealbild „guter Eltern“, wie es in populärwissenschaftlichen Schriften verbreitet wird. Zu wenig emotionale Zuwendung, zu wenig empathisches Verständnis in der Kindheit werden moniert – die Ursachen für das eigene ausbleibende „glückliche Leben“ damit begründet.
Anhand von Fallgeschichten und Beispielen aus seiner langjährigen psychoanalytischen Tätigkeit hat der produktive Autor und einfühlsame „Menschenversteher“ Wolfgang Schmidbauer sein neues Buch verfasst. Es will, essayistisch und lesefreundlich geschrieben, helfen, das Leid der Elterngeneration zu lindern, und Einsicht in die komplexen Beziehungen innerhalb der Familie schaffen. Wolfgang Schmidbauer adressiert dabei vor allem drei Entwicklungen:
– den Verlust der gemischten Spielgruppe: An die Stelle älterer miterziehender und sozialisierender Kinder treten erziehende Erwachsene und Pädagog*innen. Kleinfamilie und Individualisierung behindern und reduzieren die Chancen, in Kindergruppen Aggressionen zu steuern sowie Gemeinschaftsgefühl und Selbstverantwortung zu erlernen – das war in gemischten Gruppen leichter.
– den Verlust „animalischer“ Orientierungen: Wenn die Besinnung auf die „animalische (das „gute Tier“ in uns) Orientierung verloren geht, werden Eltern- und Kinderliebe destruktiv romantisiert und mit illusionären Erwartungen überlastet. Anstelle wechselseitiger Ablösung und Dankbarkeit treten Schuldgefühle, Vorwürfe, Suche nach Schuldigen und bittere Trennungen. Freude an Nähe und Erlauben von Distanz zwischen Eltern und Kindern gehen verloren.
– die Psychologisierung der Gesellschaft: In dem Maße, in dem das Heranwachsen in einer sozialisierenden und regulierenden Kindergruppe und/oder einer Großfamilie abnahm, wuchs die Alleinverantwortung der Eltern. Vorwiegend den Müttern wurde Verantwortung für die psychische Entwicklung und das glückliche Leben der Kinder zugeschrieben. „Mangelerlebnisse“, urteilt Wolfgang Schmidbauer, haben „Schuldgefühle, Anklagen über falsche Erziehung und ausbleibende Dankbarkeit“ (S. 16) zur Folge.
Das Ergebnis: Die Begegnungen mit den älter werdenden Kindern gestalten sich in den Familien spannungsgeladen. Die Ängste der Mütter wachsen, die Väter ziehen sich schweigend oder mit Getöse zurück, die Kinder agieren vorwurfsvoll. Dabei wollten die Eltern ihrem Nachwuchs doch ein besseres, ein angenehmeres Leben ermöglichen, als sie es selbst hatten. Nun hat der Nachwuchs vielleicht sogar studiert oder einen gut bezahlten Job, aber es mangelt an Lebensglück und Zufriedenheit.
Nicht zu vergessen: Wolfgang Schmidbauer berichtet über seine Beobachtungen in psychoanalytischen Settings, in Selbsterfahrungsgruppen oder im Rahmen der Supervision angehender Analytiker*innen. Er beansprucht kein allgemeines, generalisierendes Urteil über unsere Gesellschaft. Sehr wohl stellt er aber Bezüge zu modernen sozialen Entwicklungen, zu den Zusammenhängen zwischen dieser und dem menschlichen Verhalten her. Er bleibt dezent hinweisend, dadurch aber auch aktuell und plausibel.
Sein Buch dient Eltern und Kindern als Entlastung. Mit Bezug auf Sigmund Freud (1856 – 1939) zählt er das Erziehen mit dem Regieren und Analysieren zu den „drei unmöglichen Berufen“. Erziehung, die keinen Schaden anrichtet, tröstet der Autor, ist nicht zu haben. Bei allen auftretenden Konflikten sollte man sich erinnern, wieviel gute Vergangenheit man gemeinsam durchlebt hat.
Eine „Schuld“ der Eltern kann nicht bewiesen werden, dazu wirken viel zu viele kulturelle Faktoren auf die Beziehungen ein. Die modernen Bedingungen der Sozialisation – u. a. Migration, Individualisierung, Populismus – spricht Wolfgang Schmidbauer durchwegs an. Zum Beispiel sieht er in der „instabilen Außenwelt“ einen Grund für die deutliche Zunahme von Depressionen. Soziale Instabilität erhöht auch die Suche nach Geborgenheit und Sicherheit in emotionalen Beziehungen. Das Risiko von dann idealisierten Liebesobjekten enttäuscht zu werden, deren Schwächen man vor sich selbst verleugnet, erhöht sich.
Nicht zuletzt: Autonomie, meint Wolfgang Schmidbauer, „erkämpfen“ wir uns immer gegen unsere Eltern. Und: Wenn wir Verantwortung für (junge) Menschen übernehmen, ohne sie ständig zu kontrollieren, wachsen die Chancen auf gute Beziehungen.
Ein attraktives Buch für die Elternbildung und für alle Themen, die das Zusammenleben der Generationen betreffen. Da das Buch das Gestalten des Miteinanders in Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft betrifft, ist es sicherlich auch für den Sektor politische Bildung von Interesse. //
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